Lisa Christ ist seit 2007 als Slam Poetin und Autorin auf den Bühnen des gesamten deutschsprachigen Raumes unterwegs. Sie moderiert die Late Night Sendung «Comedy Talent Show» auf SRF 1 und schreibt für die satirische Sendung «Zytlupe» auf Radio SRF 1.
Antonia Vögeli ist Lehrerin für Gestaltung und Kunst. Nebst ihrer beruflichen Tätigkeit zeichnet, illustriert und malt sie eindrucksvolle Bilder voller Liebe zum Detail.
Der Text «Abrechnung» und die Illustration von Antonia Vögeli sind 2018 nebst 24 anderen Texten unter dem Titel «Im wilden Fruchtfleisch der Orange» in der Perlen-Reihe beim Knapp Verlag, Olten, erschienen. Bestellbar in deiner Lieblingsbuchhandlung oder direkt beim Knapp Verlag. ISBN 978-3-906311-46-3.
______________
Abrechnung
Manchmal klickt man sich nachts noch durch Gegenden, die man eigentlich meiden wollte. Kirschen essend sitze ich da und ziehe den Stiel ploppend aus der Frucht.
Verwinkelte Gassen des Internets locken meinen Geist, zu müde zum Lesen, nur sehen und klicken.
Den ganzen Tag versunken und dann doch noch ein kleiner Rest Aussenwelt vor’m Schlafengehen, ein Foto, ein paar Likes und dann ein Profil, schon lang nicht mehr gesehn. Blond, blond, blond und gut aussehend, blond und lang und Mann und Mannomann wie gut er aussieht, wie gut der schon damals aussah. Das ist lange her. Blicke von verstecktem Begehren, zu klein, um zu gären. Nur da, einfach so und genug darin.
Und ich klicke mich weiter, mehr schöne Gestalten in gepflegten Gärten, mit Blumen umrankte Vorzeigezähne, romantische Liebe, Hüften umschlungene Momente des Lachens. Alles wie in regenbogenknisterpapierene Schönheit gehüllt, unscharfe Bilder entrückter Augenblicke und da, inmitten von Fotos von halbfremden Menschen mit schönen Gesichtern, sitzt du. Wie ein Geist aus der Vergangenheit, ein vergessener Teil meiner Erinnerung.
Ich spucke den Kirschstein aus, sauge an meinem Finger, um ihn vom süssen Saft zu befreien, und starre dabei auf die Pixel, unnachgiebig starr zu einem närrischen Bild formiert, auf dem du das Bier mit halb geöffnetem Mund zurück in dein Glas fliessen lässt: eine Geste, die an Dummheit und Lächerlichkeit kaum zu überbieten ist und dich trotzdem so schön aussehen lässt, dass alles zurückkommt mit uns zwei, obwohl ich gedacht hab’, da wär’ gar nichts mehr, oder vielleicht sogar schon immer zu wenig gewesen.
Nur dass es mir leicht fiel zu gehen, damals, dass ich dich nicht vermisste, dass du dich nicht bemüht hast, dass wir beide von Anfang an dachten, es würde nicht so lange halten, wie es dann hielt, nur das will ich noch wissen, das ist es, was ich erzähle, wenn man mich nach dir fragt. Eine zweckmässige Sache, sage ich dann, ohne grosse Gefühle, es war halt grad praktisch, nicht alleine zu sein, aber einen Draht hatten wir nie, nie wirklich.
Ich habe es geschafft, mir einzureden, es wäre alles gesagt, obwohl wir eigentlich nie etwas zueinander gesagt haben. Ich habe das Leid vergessen, das Warten, das Zehren, die unnachgiebige Unstimmigkeit, die verschobene Wahrheit zwischen uns, eine Dissonanz, die manchmal nicht mal im Schlaf weggehen wollte, wie ein immerwährender Tinnitus einer Party, auf der wir nicht mal waren.
Ich hab’ die Zeit vergessen. All die Zeit wach neben dir im Bett – still, ohne einander zu sehen, all die Zeit zusammen, jede einzelne Sekunde, jeder Blick, jede Geste und die Berührungen, die am Anfang noch so begehrten, mit Illusion angereicherte Pfade auf unserer Haut, warm nebeneinander, die langsam in der kalten Winterluft ausgekühlt sind, bis da nur noch leeres Gegrabsche war. Ich habe vergessen, dass ich dich am Anfang wirklich wollte und dass es mir egal war, dass ich dich nicht verstand.
Du hättest mich abweisen sollen.
Ich hab’ nicht verstanden, was geschah. Verschwommene Sicht von den Tränen des Trotzes, Rettungsversuche, mit so vielen Worten, Fragen, um Antworten bangend, sich klammernd an letzte Überbleibsel einer einst so glühenden Liebe, und du – bliebst stumm. Dass du nicht einmal das Rückgrat hattest, mir gegenüberzutreten und mir wenigstens einmal ins Gesicht zu sehen und mir die Wahrheit zu sagen, die nackte, verkrüppelte, hässliche Wahrheit, das, was du sagen wolltest – und zwar zu mir und nicht zu einem Bildschirm, sondern zu mir, zu meinem blossen Ich, zu meiner Seele, zu meinem blutenden Herzen, denn ich habe dich geliebt, ja, ich habe dich geliebt und du hast das Bier wieder in dein Glas zurückfliessen lassen und einen Witz darüber gemacht.
Es wäre so einfach, wenn es so einfach wäre. So einfach, wenn du nur der Idiot wärst, der da auf dem Bild zu sehen ist. Aber inmitten all dieser stummen Erinnerungen der Unstimmigkeit warst du auch ein Junge. Einer, der mir selbst bemalte Kerzen ans Bett stellte, der nicht viel gesagt, sondern einfach gemacht hat. Du hattest meine Seele und ich hatte deine und wir waren uns teilweise so unglaublich nah, nur um im zweiten Moment wieder voneinander getrennt zu sein, wie von einer unsichtbaren Wand. Dann warst du nur für dich da und ich war weg, der Zugang versperrt, die Freiheit für dich ohne mich, radikal.
Mein Finger ist schrumpelig, weil ich selbstvergessen darauf herumgekaut habe, während ich auf diese Pixel starre, die mir den Blick in die Vergangenheit öffnen. Ich lasse davon ab und ziehe die nächste Kirsche, plopp, vom Stiel. Ich köpfe sie im selben Moment, wie ich das Bild wegklicke, weg, hinfort, aus den Augen, aus dem Sinn, die Tür geht zu, der Käfig verriegelt.
Da war mal ein Splitter in meinem Herzen, doch wenn ich lang genug warte, das verspreche ich dir, wird man nicht einmal mehr eine Narbe sehen.