Die Einladung – von David Weber (Kurzgeschichte)

In knappen, klaren Worten inszeniert David Weber in seiner Kurzgeschichte «Die Einladung» ein gespenstisches Kopfkino über einen surrealen abendlichen Besuch.

Wir danken David Weber für seinen Beitrag!

 

Die Einladung

Ich hatte keine Ahnung, was uns erwarten würde, kannte die beiden nicht. Lena meinte, Krawatte sei nicht nötig. Wir einigten uns, dass ich hinfahren würde und sie zurück.
Schon den ganzen Tag drückte mir diese leidige Einladung auf die Stimmung. Ich bemühte mich um ein Lächeln, als mir Lena mit einer Verbeugung die Wagentüre öffnete – ich spielte ihr zuliebe mit.
Der Ort lag weitab von der Autobahn, es gab keine direkte Strecke, nicht mal eine Kantonsstrasse.
Es war ein traumhafter Abend, keine Wolke am Himmel und immer noch sehr warm. Die Strecke führte teilweise kurvenreich dem See entlang, bot viele interessante Ausblicke, passierte kleine Dörfer, Ausflugsziele mit vielen Hotels.
Lena sah verträumt hinüber zu den Hotelterrassen, auf denen die Gäste die Abendsonne genossen, sagte unvermittelt, ich sässe lieber da drüben.
Du hast zugesagt, sagte ich.
Ich weiss, ich war selbst überrascht, aber es scheint Marianne sehr viel daran zu liegen. Ich habe das Gefühl, sie leben ziemlich einsam. Seit der Affäre ihres Mannes meiden sie die Öffentlichkeit.
Nach einer Pause ergänzte sie, das würde ich auch an ihrer Stelle.
Der See glitzerte so grell, dass ich mit der Hand das irritierende Flimmern abschirmen musste.
Dabei kennst du sie ja kaum, sagte ich.
Marianne ist auch im Volleyballclub, wir trainieren zusammen.
Ich schaute Lena ungläubig an.
Das ist alles, sagte sie.
Wieso will sie uns denn einladen?
Um uns kennenzulernen, denke ich. Neue Kontakte, was weiss ich.
Wir schwiegen, bis Lena sagte, da vorne musst du links abbiegen.
Sie hatte einen Zettel in der Hand, lotste mich den steilen Hang hinauf.
Endlich, die Ortstafel. Das Dorf war trostlos. Es gab eine Käserei mit Laden, eine kleine Kirche, einen Friedhof, ein paar schäbige Holzhäuser. Nicht mal ein Gasthaus. Nachdem wir die letzten Häuser hinter uns gelassen hatten, führte die Strasse, die zunehmend schmaler wurde, durch dichten Wald. Ich sah Lena fragend an. Sie konsultierte ihren Zettel, sagte, noch einen Kilometer.
Sonnenstrahlen blitzten durch die Wipfel der Fichten, als wir in die Einfahrt einbogen. Der Vorplatz lag bereits im Schatten. Ich stellte den Wagen auf die gepflasterte Fläche in der Nähe der Haustüre, atmete tief durch, stieg aus. Lena hatte die Beifahrertüre geöffnet, zögerte. Ich war bereits an der Haustüre, als sie ausstieg.
Ich klingelte. Wir schauten uns um, blickten auf die Tannen, auf die wuchernde Vegetation, die das Haus umzingelte. Ich klingelte ein zweites Mal. Es blieb beklemmend ruhig. Selbst das Vogelgezwitscher war verstummt.
Ich machte ein paar Schritte zurück, liess meinen Blick über das Haus wandern: ein grob verputzter Kubus mit Flachdach, zweigeschossig, verunglückte Moderne, vermutlich aus den Siebzigern. Es war das Letzte, was man in dieser Gegend erwarten würde. Sämtliche Rollläden waren geschlossen, das Gebäude machte einen verlassenen Eindruck. Ich klingelte nochmals. Nichts. Wir sahen uns an, ich fragte, hast du dich im Datum geirrt?
Nein, sagte Lena, ich bin sicher, die Einladung zum Nachtessen ist heute. Es muss etwas passiert sein oder es gab ein Missverständnis. Sie hob entschuldigend die Schultern, ich verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln.
Wir wandten uns ab, waren im Begriff, zum Wagen zurückzukehren, da vernahmen wir, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Wir blieben stehen, wandten den Kopf zur Türe, die sich wie in Zeitlupe öffnete.
Ich kannte ihn nur von den Fotos, die ihn damals in allen Zeitungen zeigten, wusste: Gynäkologe, angeklagt, musste wegen unlauterer Vorkommnisse das Spital wechseln, landete in der Provinz. Jetzt stand er im Türrahmen, hatte nur noch vage Ähnlichkeit mit den Fotos. Die Haare gelichtet, grau, verbitterte Gesichtszüge. Er war nachlässig gekleidet, sah uns abweisend an.
Die Situation war grotesk. Es war offensichtlich, wir wurden nicht erwartet.
Wir erklärten ihm den Grund für die Störung. Marianne habe uns zum Nachtessen eingeladen. Nach einer unangenehm langen Pause wurde er freundlicher, als wäre ein Hebel umgekippt worden, bat uns ins Haus.
Im Innern war es dunkel, als wäre bereits tiefe Nacht. Sämtliche Läden waren geschlossen, schwere dunkelblaue Vorhänge verdeckten die Fenster. Er knipste eine Stehleuchte an, deutete auf das Sofa, sagte, Marianne käme gleich. Er nahm die Treppe, verschwand im Obergeschoss.
Wir setzten uns. Ich stellte unser Mitbringsel, eine Flasche Bordeaux, die ich mit einer roten Stoffschlaufe veredelt hatte, auf den aufgeräumten gläsernen Salontisch. Der Raum war zweigeschossig, trotzdem hatte man das Gefühl, als fiele einem die Decke auf den Kopf. Eine offene Treppe führte auf eine Galerie, die andeutungsweise beleuchtet war. Wir sahen uns um. Im schwachen Schein der Stehlampe schälten sich die Möbel wie aus dunklem Nebel: ein Fauteuil, ein überdimensionierter Fernseher auf einem fahrbaren Tischchen, eine grosse Bücherwand, ein Esstisch, ebenfalls mit Glasplatte, dazu Stühle mit grauen Stoffpolstern und Chromfüssen. Keine Zeitung, keine Zeitschrift, kein Buch lag herum – nichts, das darauf hindeutete, dass der Raum benutzt würde.
Von oben hörten wir gedämpft Stimmen. Wir lauschten – nein, es war nur seine Stimme. Wir sahen uns an, zuckten leicht mit den Schultern, getrauten uns nicht mal zu flüstern, aber es war offensichtlich, da stimmte etwas nicht. Sprach er mit ihr? War sie überhaupt im Haus? War etwas passiert?
Nach einer halben Stunde ging oben eine Türe. Er erschien auf der Treppe, stand plötzlich vor uns, entschuldigte sich, Marianne komme gleich. Ob wir etwas trinken wollten. Wir waren zu langsam oder seine Frage war eine rein rhetorische – konsterniert sahen wir zu, wie er wieder die Treppe hochging, in einem der Zimmer des Obergeschosses verschwand, ohne einen Vorschlag anzubringen oder unsere Wünsche entgegenzunehmen.
Wir versuchten uns vorzustellen, was hier ablief, mimten unsere Vermutungen in Zeichensprache, dabei hätten wir uns laut unterhalten können, niemand hätte es zur Kenntnis genommen. Aber der Raum, das gedämpfte Licht, die bedrückte Stimmung liessen kein Gespräch zu, ich kam mir vor wie bei einem Begräbnis. Lena zeigte nach oben, deutete pantomimisch eine Spritze an, die sie auf der Innenseite ihres Arms unterhalb des Ellbogens ansetzte. Ich sah sie schockiert an. Sie sah mir in die Augen, nickte. Drogen. Marianne nahm also Drogen. Wieso hatte mir Lena nichts davon gesagt? Wilde Bilder stürmten auf mich ein: Marianne hatte einen Drogenabsturz, war bewusstlos oder – vielleicht schon tot.
Doch dann hörten wir eine Frauenstimme. Lena meinte, sie sei es.
Er tauchte oben auf der Galerie unter einer der Türen auf, rief zu uns herunter, Marianne komme gleich, verschwand wieder, zog die Türe hinter sich zu.
Marianne kam nicht. Wir hörten lediglich Geräusche, eine Türe, gedämpfte Stimmen.
Ich stand auf, begann das Sofa zu umrunden, spähte immer wieder hinauf auf die Galerie. Nach vier Runden setzte ich mich wieder, wippte mit den Beinen. Lena sass in Gedanken versunken in den Polstern. Ich konnte nicht anders, schaute alle paar Minuten auf die Uhr.
Punkt neun gehen wir, sagte ich in die unangenehme Stille. Ganz kurz überlegte ich, den Fernseher einzuschalten, die Fernbedienung lag auf dem Tischuntersatz. Ich zögerte, liess es bleiben. Vielleicht würden wir als Zeugen aussagen müssen.
Endlich, neun Uhr. Ich streckte Lena meinen Arm mit der Uhr entgegen.
Sie nickte, wir standen auf.
Auf Wiedersehen!, rief ich Richtung Galerie. Keine Antwort. Ich deutete zur Haustür, Lena nickte. Wir waren bei der Treppe angelangt, als Lena mir einen fragenden Blick zuwarf, den sie dann auf die Flasche lenkte, die auf dem Salontisch stand. Ich schüttelte den Kopf.
Lass uns gehen.
Wir stahlen uns davon, gingen hinaus ins Entrée. Ich drückte die Klinke, dachte an frische Luft, an Durchatmen, an Flucht.
Aber …
Scheisse, sagte ich.
Die Türe war abgeschlossen, der Schlüssel steckte nicht.
Ich versuchte ruhig zu bleiben, begann zu suchen, wollte gegenüber Lena nicht zugeben, dass mir der Schreck die Kehle zuschnürte. Lena durchschaute mein Ablenkungsmanöver, nagelte mich mit einem Blick fest, in dem ich Angst las.
Irgendetwas musste ich tun.
Ich wandte mich zur Treppe, rief, wir wollen gehen. Wir hörten, wie eine Türe geöffnet und gleich wieder geschlossen wurde. Dann Schreie, die plötzlich verstummten.
Wir erstarrten.
Lena hatte sich schneller gefasst, zeigte auf einen Gehstock, der neben zwei Schirmen im Ständer steckte. Ich sah sie entgeistert an. Sie nickte. Der Stock hatte einen versilberten Knauf in Form eines Jaguars oder Pumas, auf jeden Fall war er nicht nur aus Kunststoff, wie ich feststellte, als ich das Ding in der Hand wog. Ich packte den Stock, hob ihn beidhändig wie einen Baseballschläger auf Schulterhöhe, ging mit lähmend klopfendem Herzen langsam die Treppe hoch. Ich hatte bereits vier, fünf Stufen zurückgelegt, als oben die Türe geöffnet wurde. Schritte. Er kam die Treppe herunter, entschuldigte sich, es gehe Marianne nicht gut, sie schlafe jetzt. Ich hatte mich abgewandt, den Stock hinter meinem Rücken verborgen, drückte mich ans Geländer. Er ging an mir vorbei, zog den Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Haustüre. Wortlos entliess er uns. Es regnete, damit hatten wir nicht gerechnet. Ein Sommergewitter.
Wir rannten zum Wagen. Nicht wegen des Regens.
Ich warf den Stock auf den Rücksitz, wischte mir die schweissnassen Hände an der Hose ab, liess mich hinters Steuer fallen, schlug die Türe zu.
Ich fahre, sagte ich, bin ja noch nüchtern.

David Weber

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Der Autor: David Weber, Architekt, Musiker und Autor, lebt und schreibt in Zug und Caccior (Bergell). Er studierte «Literarisches Schreiben» an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich.

Von David Weber sind bisher folgende Romane im Knapp Verlag erschienen: Kral (2018), ISBN 978-3-906311-43-2, Reduit (2019), ISBN 978-3-906311-52-4 – online bestellbar in deiner Lieblingsbuchhandlung (sie kann es brauchen!) oder direkt beim Knapp Verlag.