SELMA INVISIBLE – VON SIMON MEYER (KURZGESCHICHTE)

Selma invisible von Simon Meyer

Von Dingen möchte ich berichten die absolut wahr sind.

Im kalten, zugigen Bahnhof Luzern, zwischen all den hetzenden, strauchelnden und Koffer schleppenden Menschen und in all dem Gestank aus Bratwurst, verschwitzten Hemden und Blusen, Parfums und Rasierwassern, Abschiedstränen und Geleisemief stehe ich vor den Geleisen und ziehe mir ein Billet nach Hause. Durchsagen und der Lärm der Reisenden dringen auf mich ein wie eiskalte Gischt. Da taucht aus dem Gewimmel ein Mann auf. Hut auf dem Kopf, und ein beiger Trenchcoat wie ihn Columbo immer getragen hat – nur nicht so zerknittert. Er begrüsst mich flüchtig, aber herzlich und scheint in Eile. Aus heiterem Himmel fragt er mich, ob ich seinen Hund nehmen würde. Ich kenne ihn, nicht sehr gut, aber gut genug, um zu merken, dass er es offenbar ernst meint. Trotzdem bin ich nicht sicher ob er scherzt oder nicht. Es sei ein Notfall und müsse wirklich dringend weg, meint er. Der Hund aber könne nicht mit. Das ginge einfach nicht, und er sei ja so froh, dass er mich getroffen habe. Er schien es tatsächlich ernst zu meinen, und der unstete Blick zur Anzeigetafel spricht Bände. Eine seltsame Geschichte, aber ich sage Ja, wie könnte ich nein sagen zu diesem Mann? Der Hund scheint nett zu sein und lächelt mich an. Ich lächle zurück und übernehme die Hundeleine. „Na dann los, Selma.“

Später. Aus der Küche ist das laute und offensichtlich sehr nasse Schlabbergeräusch der saufenden Selma zu hören. Sie dreht den Kopf, als ich reinkomme. Das lockende Schütteln der Leine in meiner Hand reicht, und wedelnd kommt die schwarze Hündin mit der braunen Schnauze auf mich zu gerannt. Ihr Hintern wackelt so heftig, dass mich fast die Angst befällt, sie könnte umfallen. „Uuuuuh“, heult sie. Ich lache. „Komm!“

Wir laufen dem aufgewühlten See entlang und jagen Ahornsamen, die im Wind torkelnd davonfliegen, vor uns tanzen und uns necken. Als wir später beim Parkplatz ankommen, beide nass vom feuchten Gras, warten vier Herren neben meinem Auto. Ein Sanitätsfahrzeug steht hinter ihnen. Der Chauffeur steht daneben und raucht eine Zigarette. Der Blick der Männer verrät uns, dass etwas nicht stimmt. Selma bellt und knurrt. „Still, Selma“, sage ich, und zu den vier Sanitätern gewandt: „Was ist los?“. „Herr Smy?“, fragt der eine, mit ausgestrecktem linkem Arm langsam auf mich zukommend, als möchte er ein entlaufenes scheues Kätzchen einfangen. Es fehlt nur noch das „Komm, buss buss buss“ und das Leckerli in der Hand. „Selma, die tun nichts, warte und sitz!“, sage ich zu Selma und „Ja, Smy“ zu den Sanitätern. „Darf ich Sie fragen, mit wem Sie da reden und was Sie mit der Leine wollen?“, fragt mich der eine und zeigt Richtung Selma. Ich verstehe diese Frage nicht. „Ich verstehe Ihre Frage nicht.“ „Wer ist Selma, Herr Smy?“ „Der Hund, wer sonst!“ Ich bin nun wirklich aufgebracht. Dieser dumme Kerl, was will der von uns? „Welcher Hund denn, Herr Smy?“

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und schüttle den Kopf, schaue zu Selma und Selma schaut zu mir. Wir verstehen nichts und dennoch alles, machen rechtsum kehrt, und dass wir davonkommen. Wir rennen, bis die Luft in unseren Lungen brennt und das Blut uns in den Ohren pocht.

Später. Das kleine, etwa vier mal drei Meter grosse Zimmer ist karg eingerichtet. Motel-Style, aber es hat Aussicht auf die Berge.

Ich kann den Pilatus sehen und weiter links das Stanserhorn. Neben mir, auf den Hinterbeinen stehend und sich wie ich an der Fensterbank abstützend, steht Selma.

Ich kraule sie hinter den langen Ohren. „Was hältst du davon, Hund?“, frage ich.

„Schöne Aussicht“, sagt Selma …

 

 

©Simon Meyer