Kunst in Zeiten von Time-Slots

So ganz gefeit bin ja auch ich nicht gegen Hypes. Dank einer guten Freundin wurde der Besuch der Matisse-Ausstellung aber doch noch zu einem wenn auch schmerzhaften (Zahnstocher-unter-den-Fingernägeln-)Highlight im beginnenden Novembergrau. Einfach ein bisschen anders als erwartet.

Ich habs jetzt dann gesehen. Das mit der ganzen Männerkunst von vor einem Jahrhundert. Picasso, Léger, Kirchner, Dalí, Klimt, Schiele und eben auch Matisse. Mal ganz scherenschnittartig in einen Topf geworfen zeichnen sich deren figürlichen Meisterwerke dadurch aus, dass sie sehr oft nackte – oder seltsam verkleidete und damit zu Objekten instrumentalisierte, wie bei Matisse die Odalisken – Frauen zeigen, die in demütiger Pose, den Blick nach unten gerichtet in sich selbst versunken ruhen. Kein Wunder, lassen sie den Kopf hängen, wenn sie stundenlang in gleicher Stellung verharren müssen, bis der übergrosse Meister sie als Muse (euphemistisch für: ach du armes Opfer?) auf die Leinwand gepinselt, in Stein gemeisselt oder in Bronze gegossen hat.

Ich habs jetzt dann gesehen. Seit Jahrzehnten die immergleichen oder zumindest immerähnlich kuratierten Retrospektiven, zu denen Kunstbeflissene in Scharen pilgern, online Time-Slots (ach wären das doch Slots in andere Zeiten …) lösen, um dann nicht stundenlang an der Museumskasse anstehen zu müssen. Sodann drängen sich die reichgekleideten Gutsituierten gepflegt und jede und jeder um den ganz speziellen individuellen Blick auf dieses und jenes «wun-der-ba-re!» Gemälde bemüht vor den Bildern der Ausstellung, stets darauf bedacht, besonders wissend auszuschauen – man kennt sich ja aus, ist in der Kunstwelt zu Hause, kennt das gesamte Spektrum vom Blauen Reiter über die schummrigen Seerosen bis zu den zerflossenen Uhren und da capo.

Ich auch.

Habe online Time-Slots gelöst für meine Freundin und mich. Habe mich gut gekleidet unter die Scharen gemischt und mich um den ganz besonders wissenden Blick auf die Gemälde von Matisse bemüht, habe hier picassoeske Kubismuselemente gefunden und da in Henrys Frühwerk die Anklänge der späteren Scherenschnitte entdeckt. Habe den rauen, unfertigen Pinselduktus bei den «Geranien» studiert und den leichthändigen Farbauftrag bewundert – viel zu viel nettes Rosa überall! –, die Goldfische plastikstarr in der Blumenvase leuchten sehen und das ach so zauberhafte mediterrane Licht der Nizza-Periode.

Der letzte Raum mit späten Werken: die tollen Scherenschnitte! Entstanden nach einer schweren Operation infolge Darmkrebs des Künstlers (der Mann tut mir ja leid, aber wirklich interessieren tut es mich so viele Jahre nach dessen Tod ehrlich gesagt auch nicht), Abertausende und Abertausende Male reproduziert, zu purem Merch verkommen.

Draussen im Museumsshop dann der Büchertisch. Männer schreiben über Männer. Der ganze Tisch vollbeladen mit unglaublich eloquenten Aufsätzen und detaillierten Betrachtungen von selbst ernannten oder von anderen gefeierten Experten, Tausende Male detailliert die Präsenz des ach so offenbar klandestin Absenten reflektiert und episch dargelegt, festgehalten in teuer gestalteten dicken Regalfüllern, die keiner auch nur ein zweites Mal aufschlägt, geschweige denn liest.

Und plötzlich hat mich das alles unendlich angekotzt.

Bräuchte es künftig vielleicht Warnhinweise, wie meine Freundin vorschlug – was uns ein erhelltes punkiges Lachen entlockte?

«Die Entstehungszeit der Bilder dieser Ausstellung fällt in eine Epoche, in welcher in der westlichen Welt die gesellschaftliche Gleichstellung der Geschlechter noch weniger als heute vollzogen war. Bitte beachten Sie, dass die hier gezeigte Retrospektive deshalb diskriminierende Herabwürdigungen phänotypisch weiblich gelesener Personen enthalten kann und der Besuch dieser Ausstellung Ihre Gefühle verletzen könnte.»

«Kunst für den Arsch», Readymade 2024, © Petra Meyer, Toilettenpapier Tempo 5-lagig Deluxe