Diesen kleinen Reisebericht widme ich Professor Dr. Ruth Durrer. Du hast mir ein Universum geschenkt, und dafür danke ich dir!
Als ich noch zur Schule ging, bemühten sich meine Eltern aufrichtig, einen guten Schüler aus mir zu machen. Natürlich hatten sie nicht den geringsten Erfolg, und so kam es, wie es halt kommen musste: Anstatt einen anständigen Beruf zu erlernen, wie Gärtner oder Bäcker, schickte man mich ans Institut für Wissenschaft und Raumfahrt, wo ich als Ingenieur – und wenn es dafür nicht reichen sollte, zum Intergak – ausgebildet werden sollte.
Intergak war natürlich nicht die richtige Berufsbezeichnung, denn diese lautete eigentlich «Fachkraft intergalaktische Raumfahrt». Tatsächlich gab es kaum etwas Schlimmeres, und meine Eltern weinten sich die Augen aus dem Kopf, als sie vom Komitee den Bescheid bekamen, dass aus ihrem Sohn ein Intergak werden würde.
Meine Ausbildung begann bei Professor Qn8ak Ot9, von uns Studierenden gerne «Q» genannt. Da ich wenigstens geschickte Finger habe, benannte mich «Q» im dritten Jahr zu seinem Assistenten, denn er war nun so weit, dass er R.U.T.H. zusammenbauen wollte.
R.U.T.H. stand für Regulated Ultradimensional Thinker of Hypotheses und war, im eigentlichen Sinne, ein riesiger Rechner, der nicht nur in unseren Dimensionen, sondern in jeder gedachten Dimension +1 weiterdenken konnte. Er sollte neue Hypothesen über das Universum aufstellen und Fragen denken, die der Mensch zu denken nicht in der Lage war. Da, was auch auch immer daraus hervorgehen sollte, von niemandem mehr verstanden werden konnte – ich erinnere an das fatale Scheitern von Deep Thought, welcher auf die «endgültige Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest» mit 42 antwortete –, mussten natürlich Massnahmen ergriffen werden, dem entgegenzuwirken.
«Q» kam auf die elegante Idee, den Rechner zwar Fragen, Ideen usw. in alle Dimensionen durchdenken zu lassen, diese Dimensionen jedoch mit einer Art Membran zu umgeben. Diese «Membran» wurde anhand der zur Zeit der Fragestellung herrschenden, durchschnittlichen Intelligenz der Fragenden errechnet.
Das bedeutete, dass der Rechner einem eine in acht Dimensionen gedachte Sphäre erklären konnte, ohne dass man sich in die Hose machte, in Ohnmacht fiel und mit Kopfschmerzen erwachte. So jedenfalls die Theorie. Frühere Experimente waren kläglich gescheitert und Fragen wie: «Was bedeutet Unendlichkeit?» mit der Antwort: «Denk dir einfach, es wäre Montag» beantwortet wurden und aus dem Ausgabefach neben dem Schreibtisch eine 1000er-Packung Antidepressiva purzelte.
«Wozu soll diese Maschine gut sein?», fragte ich einmal in einem selbstzerstörerischen Augenblick. Der Professor sah mich lange an, missmutig erst, wütend dann, und plötzlich klärten sich seine Gesichtszüge wie der Himmel nach einem Sommergewitter auf und er strahlte mich an. «Gute Frage!», rief er aus, schnallte sich den Werkzeugbeutel von der Hüfte, zog den Arbeitskittel aus und rannte aus dem Raum. Wir sahen ihn ein halbes Semester nicht mehr. Wir arbeiteten inzwischen die uns aufgetragenen Arbeiten ab und machten uns ansonsten einen schönen Lenz.
Als «Q» zurückkehrte, leuchteten seine drei Antennen wie Zauberkerzen und sein Auge glitzerte wie ein Diamant. Sofort rannte er auf mich zu, schloss mich in seine Arme und rief dann allen zu: «Merkt euch, die Dümmsten stellen die besten Fragen!» Ich war mir nicht sicher, ob ich das als Lob oder als Beleidigung auffassen konnte, und da auch meine Kommilitonen nicht wussten, ob sie mich nun mit Bewunderung oder Verachtung ansehen sollten, schwiegen alle betreten.
Der Professor war motiviert und wir mussten Sonderschichten einlegen, um den Rückstand aufzuholen.
Es war spät nachts und ich stand mit ihm an der Maschine, die inzwischen ihre endgültige Grösse erreicht hatte. Wir hatten alles miniaturisiert, und so hatten wir sie auf die Grösse von rund 300 x 200 x 50 m herunterbringen können.
«Stell dir vor, was es uns mitteilen kann!», flüsterte er ehrfürchtig.
«Ich weiss nicht, Professor, Sie wissen, ich bin begeistert von der Arbeit mit Ihnen, aber meine Frage steht noch immer: Wozu soll sie gut sein? Was nützt es mir, wenn ich R.U.T.H. frage, wie man bessere Plätzchen backen kann, wenn sie mir eine Antwort gibt, die ich zwar verstehe, jedoch nicht umsetzen kann, weil mir leider eine fünfte Dimension fehlt, um den bestimmten Knusper hinzukriegen?»
«An Knabberzeug denkst du? Was ist bloss mit dir los, Kerl! Hier geht es doch nicht um Brownies. Die Maschine ist imstande, Fragen aufzuwerfen oder Antworten zu geben, die nicht wie die unseren vom Verständnis vierdimensionaler Wesen abhängig sind. Stell dir doch einmal vor, du kannst nicht dreidimensional sehen, sondern nur zweidimensional wie ein Kleinkind. Statt also ständig ins Leere zu greifen, weil du denkst, der Kecks liegt in deiner Reichweite, er aber in Wahrheit auf dem Sofatisch einen Meter entfernt liegt, erhältst du nun plötzlich die Fähigkeit, Raum und Zeit abzuschätzen, dein Gehirn errechnet Abstände aufgrund von Erfahrungswerten, Perspektiven und so weiter. Was, wenn sich nun eines Tages eine fünfte Dimension dazugesellen würde? Eine, die dir vor Augen führen würde, dass der Sofatisch gar kein rechteckiges, dreidimensionales Objekt, sondern ein sich mit uns zusammen im Raum verdrehendes fünfdimensionales Objekt ist, das zwar sehr wohl hier ist, sich aber auch an der Membran unseres Universums spiegelt und dort ebenfalls seine Wirkung entfaltet?
Und nun stell dir dich vor, wie du dich dann an dieser Membrane spiegeln siehst, und dich fragst: ‹Muss ich unbedingt wie ein verdammter Hippie herumlaufen?› Also, Junge, schneide dir die Haare, denk vernünftig über das nach, was du tust, und mach deine Arbeit recht. Ich bin sicher, aus dir wird dereinst ein recht ordentlicher Pilot!»
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging nach Hause. Mit der deprimierenden Vorstellung eines Lebens als Pilot in meinen Gedanken machte ich mich ebenfalls auf den Weg.
Jahre später, R.U.T.H. war längst in Betrieb und ich tatsächlich Pilot, genoss ich gerade eine kleine Supernova in NGC 4038, als ich plötzlich angefunkt wurde. Es stellte sich heraus, dass da draussen im Raum ein Schiff halb in unserem Universum, halb in seinem stecken geblieben war. Es gibt natürlich nur wenig, was schwieriger ist, als ein Raumschiff zu finden, das sich nur quasi in unserem Universum befindet. Es reicht also eine Taschenlampe nicht aus und auch ein Fernrohr allein hilft nicht. Allerdings hatte ich R.U.T.H., mit der jeder Pilot in Verbindung stehen konnte.
«Hi R.U.T.H., wie geht’s?»
«Danke der Nachfrage, Smy, mir geht es blendend. Kann ich dir irgendwie behilflich sein?»
«Ach, das wär klasse. Ich habe da draussen ein Raumschiff, das sich in seinem und unserem Universum gleichzeitig befindet und offensichtlich nicht vor und zurück kann. Ich habe errechnet, dass das gar nicht möglich ist, aber wie du weisst, war ich schon immer schlecht in Mathe. Ich könnte mich also auch irren. Was meinst du dazu?»
«Hm, lass mich mal nachdenken ….grrml…hmmmm….Birnen…..mal π…behalte sechs, verlier die vier……hmmmm……..jaaaa…..und zehn ist keins…..ist sechs und also gleich acht..wurzel….mal N +1…., ja, mein Freund, das könnte klappen!»
«Du hast eine Lösung?»
«Hm, hast du Joghurt?»
«Naja, ich hab im Kühlschrank ganz hinten mal ein Zweierpack Ananasjoghurt gesehen.»
«Wunderbar, dann sei ein braver Junge und iss ein Joghurt, das könnte hier noch etwas dauern.»
Das grüne Lämpchen stellte auf Blau um und R.U.T.H. begann wieder zu murmeln. Da ich nichts von Lebensmittelvergiftungen halte, liess ich das mit dem Joghurt bleiben und vertiefte mich wieder in mein Fachmagazin «Pilot», in dem ich gerade den Artikel «Der Mensch, nichts, worüber zu debattieren lohnt» von Stanislav Pirx las.
Kaum sechs Stunden später wurde das Lämpchen wieder grün und ein leichtes, fröhliches Summen kam aus dem kleinen Messinggitter in den Armaturen.
«Hallo?», fragte R.U.T.H., «bist du noch da?»
«Lady, wir sind hier doch etwas von der nächsten Pizzeria entfernt, wo soll ich also schon hingehen? Hast du eine Lösung für mich?»
«Aber ja sicher! Bist du vertraut mit der Bunduali-Huggentobler-Theorie?» (Stille) «Oje, ok, dann will ich dir das erklären. Also, das dir bekannte Universum, nennen wir es A, ist ein endlicher Raum mit der Grösse X in einem unendlichen Raum, nennen wir ihn 1. Endlich ist A deshalb, weil es einen zeitlichen Anfang und ein Ende hat. Dass es in einem unendlichen Raum existiert, macht es nicht notwendigerweise selber unendlich. Stell dir einfach eine Matrjoschka-Puppe vor: Jede davon ist zwar in der Form unendlich, jedoch nicht in ihrer Ausdehnung oder Existenz.»
«He», unterbrach ich den Redeschwall, «ich bin zwar nur ein Pilot, aber komm mir nicht so, ja? Ich bin mit der Multidimensionalität durchaus vertraut, immerhin war ich dabei, als du gebaut wurdest. Mir ist klar, dass jemand, der an der Fertigung eines Radios beteiligt ist, noch nicht grundsätzlich verstehen muss, was Radiowellen sind. Aber ein bisschen davon hab ich schon verstanden.»
«Aber natürlich, entschuldige. Ich werde dir weitere Puppenbeispiele ersparen. Also, in Raum 1 gibt es, da er unendlich ist, unendlich viele Möglichkeiten. Ein Teil dieser Möglichkeiten sind die Dimensionen. Wir definieren vier Raum-Zeit-Dimensionen. Länge, Breite, Höhe und die Zeit. Nun stell dir aber einen gekrümmten Raum vor, also zum Beispiel ein Blatt Papier, das du zerknüllst. Dann sind wir bei sechs Dimensionen. Denn einerseits ist da die Wechselwirkung von Kraft und Materie, die beim Zerknüllen entsteht, und andererseits die Spannung, welche durch die fünf anderen Dimensionen aufgebaut wird. Du kannst dir diese so vorstellen, als ob das sich zusammengeknüllte Blatt langsam wieder ausdehnen möchte.
Da nun in dem unendlichen Raum 1 auch unendlich viele Möglichkeiten existieren, aber natürlich auch unendlich nicht sein müssen, ist es so, dass sich zu genau diesem Zeitpunkt ein anderes Universum, nennen wir es B, genau hier befindet, wo wir auch sind. Und da die Dimensionen miteinander Wechselwirkung haben, ist zum Beispiel die Spannung, welche in Universum B existiert, verantwortlich für die Expansion unseres Universums. Und wenn unser Raum einer zu grossen Spannung ausgesetzt wird, beliebt er gerne mal aufzubrechen oder etwas Dampf abzulassen. Oder er bekommt unansehnliche Dellen. Und an genauso einer Stelle befindet sich das Raumschiff, dem du helfen sollst. Es ist eine Position in unserem Raum, die von einer Spitze des zerknüllten Papiers, das Universum B ist, durchbohrt wurde.»
Das Lämpchen blinkte und das ganze Raumschiff summte fröhlich vor sich hin. Ich liess mir das alles durch den Kopf gehen, wohl wissend, dass ich hier nicht die Realität erzählt bekommen habe, sondern nur das, was R.U.T.H. dachte, was ich fähig war, zu verstehen.
Wenn an der Sache was dran war, dürfte es recht schwer werden, das andere Raumschiff wieder in sein Universum zurückzubugsieren.
«Könnte es sein, dass die Supernova den Riss produziert hat?», fragte ich.
«Als Ursache ist das möglich. Denn der Riss muss nicht zwingend dort entstanden sein, wo sich die Supernova ereignet hat. Wie gesagt, der Raum steht unter Spannung und ist nicht nur der Gravitation ausgesetzt. Wenn du bei einem zerknüllten Blatt Papier irgendwo draufdrückst, wirst du feststellen, dass es sich auch an einem anderen Ort bewegt.»
Na dann war ja alles klar!
Getrost konnte ich nun also an die Arbeit gehen. Ein wenig Bindfaden, zwei Schachteln Streichhölzer, vier Pfund Maschinenfett und eine Socke landeten auf meinem Arbeitstisch in der Werkstatt des Maschinenraums. «Na gut, dann woll’n wir mal!»
Als Intergak weiss man sich zu helfen, und es vergingen keine zwei Stunden, da hatte ich einen Raum-Spannungsdetektor gebaut, den ich an den Monitor anschloss und der mir deutlich all die Spannungen und Verspannungen in unserem Universum zeigte. Und da, vor mir und etwa 1,7 Lichtminuten entfernt, war deutlich ein roter Punkt zu erkennen. Kurze Zeit später hatte ich Rosinante, mein Schiff, davor geparkt und beobachtete das interessante und durchaus schöne Muster, welches mir mein Bildschirm da zeigte.
Nun galt es also noch, das andere Schiff, das für mich natürlich nicht sichtbar war, zurück in sein Universum zu bugsieren. Die Frage war natürlich, wo ich denn nun draufdrücken sollte, damit gerade hier der notwendige Druck aufgebaut würde.
Ich folgte den Spannungslinien, die mir der Bildschirm zeigte, und fand eine, die genau zur «Delle» im Raum führte. Diese war einige Lichtminuten weiter hinten mit sechs anderen verbunden, was mich sofort auf eine Idee brachte. Dort, wo diese sechs Linien fast parallel zu der anderen einen Linie führten, setzte ich an und programmierte am Pult meine Gravitronenkanone, die ich sonst für das Zertrümmern von Asteroiden benötigte, die auf irgendwelche Planeten zu stürzen drohten. Ihr kennt das ja.
Ich gab also die Noten für «Ships Passing Through The Night» von Jimi Hendrix ein und liess es krachen. Man sah auf dem Monitor, wie die Spannungslinien ins Schwingen gerieten, sich richtiggehend aufluden und alles an die eine Linie weitergaben, die zu der «Delle» führte. Dort tat sich ebenfalls viel. Der Punkt wurde auf dem Bildschirm immer grösser, und schon fürchtete ich, dass ich vielleicht etwas nah dran sein könnte, wenn mein Plan in die Hose ging, doch es war nun zu spät für einen Rückzieher. Ich dachte gerade daran, dass die Besatzung des anderen Raumschiffs hoffentlich keinen Tinnitus kriegen würde von dem heftigen Song, da – gerade als die Gitarre in ein lang gezogenes Brummen übergeht – ploppte der Raum einmal vor und dann zurück und der rote Punkt war verschwunden.
Ja es ist wahr, ich konnte geradezu spüren, wie sich, wenn auch nur für einen ganz kurzen Augenblick, das ganze Universum entspannte.
«Danke, R.U.T.H.!»
«Keine Ursache.»
©simonmeyer 2023