Retrospektive Augurei wurde von der Abteilung für Gesellschaftsforschung des Kantonsmuseum Luzern zum Wort des Jahres gekürt.
Ja gewiss, das Wort gab es bis anhin gar nicht, aber darüber wollen wir doch bitte drüber weg sehen, denn der Abteilungsleiter hat wirklich lange darüber sinniert.
Was ist «Retrospektive Augurei» und weshalb wurde der Begriff ausgewählt?
Das Wort setzt sich zusammen aus «retrospektiv», also «zurückblickend», und Augurei, was die Tätigkeit von Auguren, also Wahrsagern bezeichnet.
Zusammengesetzt meint das Wort, dass man rückblickend auf ein Ereignis dessen Verlauf und/oder Ende vorhersagt.
So etwa, wenn die Mutter nach der Scheidung der Tochter sagt: «Ich habe ja schon immer gesagt, dass das ein schlimmes Ende nehmen wird!» Also ein im prophetischen Sinne ausgesprochenes «nehmen wird», das aber erst, wenn es geschehen ist, gesagt wird.
Gerade in diesem Jahr war die Retrospektive Augurei besonders oft zu beobachten gewesen und allenthalben taten sich Politikerinnen, Politiker, Medienschaffende und die, die von den Leuten als «Promis» bezeichnet werden, damit hervor. Sie ist zu einem Massenphänomen geworden, dem grosse Teile des Volkes anheimfielen.
In der Folge auf ein Ereignis, wie zum Beispiel einer Pandemie, deren Verlauf zu prophezeien, ist eine einfache Sache. Es ist sozusagen etwas für Anfänger. Die richtige und echte Prophezeiung erfordert jedoch nicht nur grosses Geschick in der Zusammenfassung von den erfassten Möglichkeiten, sondern auch den Mut, daraus eine Wahrscheinlichkeit abzuleiten und diese vor dem Ereignis auszusprechen! Natürlich gibt es auch unter Auguren Dummköpfe (Dummköpfinnen?), die tatsächlich glauben, dass der Flug einer Schwalbe Sieg oder Niederlage in einer Schlacht vorhersagen kann, aber diesen Leuten fehlt der Opportunismus und der Verstand, sich die Antwort auszudenken, die nicht zu ihrer Hinrichtung führen wird, und daher sind sie recht selten.
Die erfolgreichsten Auguren sind – und waren schon immer – diejenigen, die den Unsinn, den sie gestern erzählt haben, heute als Fakt interpretieren.
Es gibt zwei Sorten:
«Natürlich habe ich gesagt, dass es regnen wird, und dass heute die Sonne scheint, bestätigt ja nur meine Vorsehung, denn wenn hier die Sonne scheint, so ist es gewiss, dass es andernorts regnet!» ist eine schwache Form, denn sie beinhaltet noch das von der Angst auf Hinrichtung geprägte Element des Ausweichens.
Wirkliche Überzeugungskraft benötigt man jedoch, wenn man sagt: «Natürlich habe ich gestern gesagt, dass es heute regnen wird. Na und, ich hatte doch recht, es regnet!» «Aber Ihro Weisheit, die Sonne scheint doch!» «Papperlapapp, du hast doch keine Ahnung! Es regnet, also versuche hier nicht die Fakten zu verdrehen!»
Die Retrospektive Augurei ist die Selbstbestätigung, die man braucht, um über die Angst hinwegsehen zu können, dass man weder die Zukunft noch die Vergangenheit vorhersagen kann.