Urmensch mit Handy

Dergestalt ist der moderne Mensch geschaffen.

Von seinem Kleinhirn gesteuert, von Hormonen und Anlagen, von Ängsten, die älter sind als die Menschheit selber – hin- und hergerissen zwischen dem Urmenschen, der er noch ist, und dem modernen Menschen, der er zu sein glaubt .

Verschreckt fährt er zusammen, wenn sich Schatten bewegen, bei Donnergrollen verkriecht er sich in seine Höhle, verriegelt die Fenster und hofft, dass er verschont bleibt. Manche beten gar. Wie unsere Ahnen glaubt er noch an Geister und an Götter. Opfert oder tötet gar für sie. Doch der moderne Mensch ist nicht wie die Ahnen. Die Ahnen waren mit der Natur, Teil der Natur. Der moderne Mensch hat Technik. Und so sitzt er da, dieser Neandertaler mit Handy, und tötet nicht mehr mit Stein und Speer, sondern mit dem Computer. Diese Geräte sind überall und in allem. Sie kommunizieren mit dem Menschen, interagieren untereinander, sind lernfähig, und manche hoffen, sie gar intelligent machen zu können. Abhängig ist er, der Mensch, von diesen Geräten, dieser Technik, und das in einem Mass, dass er kaum noch seine kindische Unbekümmertheit zu erhalten vermag und bereits ab und an die Angst hervorkriecht – die Angst vor der Dunkelheit und dem Hunger und dem Tod, die drohen, wenn die Geräte aussteigen würden.

Doch die Angst erlischt, wenn sie geteilt wird. Und der moderne Mensch teilt seine Angst mit Tausenden. Ermöglicht von den Computern bellt er sie in das weltweit gespannte Kommunikationsnetzwerk, und die ganze Welt schreit und krächzt und jammert und zischelt und wispert zurück. Millionen Affen, die ihre Ängste, ihre Sorgen, ihren Hass und ihre Liebe in den Wald schreien. Jeder für sich, und nur ein «gefällt mir» bestätigt, ob man gehört wird und die Angst geteilt ist oder nicht.

Auch Wissen wird massenkommuniziert. So viel Wissen, dass der moderne Mensch nicht weiss, welches das richtige, das gerade wichtige ist. Das bedeutet dieses, wird einem überall gesagt, oder das jenes. Tu das! Mach das andere! Das ist richtig, dieses ist falsch. Schwarz wird zu Weiss, und das bisher Runde zu einem Würfel. Wahrheit, bis heute immer schon nur eine philosophische und religiöse Grösse, ist losgelöst von alldem geworden – die stinkigen Gase einer Leiche, die niemand mehr anfassen möchte.

Oh ja, dergestalt ist der moderne Mensch beschaffen, dass er selber zur Maschine werden will. Sein Herz, seine Ohren, seine Augen, sein Gehirn können schon gesteuert werden. Implantate werden eingesetzt, dass man leben kann, oder aber damit man keinen Schlüssel mehr benötigt, um die Tür zu öffnen, oder dafür, um ein Telekommunikationsgerät zu steuern. Die neuen Technologien ermöglichen, dass man nun ein Automobil steuern und gleichzeitig telefonieren kann.  Die Technik kann aber auch Leben retten. Zum Beispiel die von Leuten, die während des Autofahrens telefoniert haben.

Computer regeln das Chaos. Sie machen Arbeitsabläufe effizient. Minimieren Fehler in der Produktion, steuern Lern- und Arbeitsprozesse und die Warenflüsse. Wie diese Prozesse ablaufen, versteht der moderne Mensch nicht mehr, und auch nicht, wie die Geräte funktionieren, die sie steuern. Das Wissen liegt nun bei einigen wenigen, quasi den Schamanen der Technologie. Sie kennen die Geheimnisse dieses oder jenes Algorithmus oder die Legierung dieses oder jenes Bauteils. Mehr wissen sie nicht. Aber die Computer wissen, denn ihnen wird all dieses Wissen anvertraut, um es zu jeder Zeit wieder abrufen zu können.

Dergestalt ist der moderne Mensch – er ist ein Affe, der ein Handy bedienen kann.

Wie sehr er sich auch mit diesen neuen Technologien verbindet, er ist und bleibt ein Wesen, das noch immer gleich funktioniert wie unsere Urahnen. Die jahrtausendealten Riten schlummern noch immer in ihm und brechen allenthalben durch. Zerren von innen an ihm wie eine gefangene Ratte, die sich durchbeissen will. Es zieht ihn in die Natur, da sie das Wilde in ihm beruhigt, aber es ist nicht mehr seine Natur. Es ist eine geschundene, vergewaltigte und ganz und gar fremde Natur. Sie ist eingezäunt, befahrbar, sicher erfahrbar gemacht. Barrierefreie und gesichert angelegte Wege. Niemand soll sich verletzen können, das Tier im Wald soll geschützt sein vor den Menschen und die Menschen sollen geschützt sein vor den Tieren im Wald. Man regelt, wann und wie die Wälder, die Wege und Pisten zu benutzen sind und wann und wie nicht. Ebenso ist auf dem Wasser und in der Luft alles geordnet und geregelt. An die Bäume sind Plakate genagelt, die erklären, dass diese oder jene Pflanzenart ausstirbt, oder die Ratschläge geben, wie man seinen Körper zu strecken oder zu beugen hat, um gesund und fit zu bleiben.

In die «echte» Natur gehen nur Fachleute, Eingeweihte, die ihrer kundig sind, oder die die unbedingt müssen. Forscher und Flüchtlinge. Wer nicht gelernt hat, mit der Natur zu leben, kann darin umkommen. Das war schon immer so, nur wussten unsere Ahnen, wie man in und mit der Natur lebt.

Damit er das Urmenschen-Ich in sich auch anders ausleben kann, hat er sich Dinge wie den Sport erfunden. Wettkämpfe. Man bemalt sich das Gesicht wie unsere Altvorderen, schmückt sich mit den Emblemen seines Stammes und kämpft, wenn es sich ergibt, bis aufs Blut mit denen, die die Farbe eines anderen Stammes tragen. Kriegsgeschrei und das Stöhnen der Verletzten vermischen sich in den Arenen mit den Dünsten von Schweiss und Alkohol. Andere schliessen sich zu Gruppen zusammen und gehen, wie die Ahnen, gemeinsam sammeln. Sie gehen dann durch riesige zu diesem Zweck erfundene Hallen und Häuser, drücken ihre Nasen an Schaufenstern platt, plappern aufgeregt über die Farbe dieses oder jenes Dinges, das sie unbedingt haben müssen. So wird der Gruppenhalt gefestigt und das Urmenschen-Ich ist befriedigt, weil es sammeln konnte.

 

Dergestalt ist also der moderne Mensch. Eine Seite ist noch immer wie die unserer Ahnen, die andere die eines modernen Menschen. Der handliche Computer wurde zu etwas, das den Menschen immer begleitet, ja ihn gar verzweifeln lässt, wenn er ihn nicht mehr hat. Ein Totem das einem mit allem verbindet und alles weiss. Dieses kleine Ding, so denkt der moderne Mensch, macht ihn zum modernen Menschen.

Die Beobachtung zeigt allerdings, dass das Gerät vom Urmenschen gehalten wird.

 

Der Urmensch mit dem Handy

 

 

 

 

 

©Simon Meyer, 2020