Der 1. August
«Einmal mehr ist es so weit, dass wir unsere Herzen in Stolz erwecken, um an diesem hehren Tag gemeinsam unseren Helden und unserem Vaterland zu gedenken und als Volk in Gott zu feiern!»
So oder ähnlich hat uns zu meiner Schulzeit der Rektor der Schule zur Nationalfeier empfangen. Das Volk kam auf einer grossen gemähten Wiese zusammen. In der Mitte der Wiese türmten sich Paletten, Holzscheite, Bettgestelle und ganze Schränke zu einem riesigen Turm, der später angezündet werden sollte. Auf einer Ehrentribüne standen die offiziellen Vertreterinnen und Vertreter von Gemeinde und Parteien, flankiert von Pfaffen und den Präsidentinnen und Präsidenten der wichtigsten kirchlichen Vereine. Weiter hinten, in sicherem Abstand zum noch nicht entfachten Feuer, standen Tische und Bänke und eine riesige Theke, an der Bier und Cola und Kaffee mit Schnaps sowie Kartoffelsalat, Würste und Brot bereitstanden.
Doch das Volk durfte noch nicht zu den Trögen. Es räusperte sich, bevor es still wurde. Man hörte ein Kind schreien und einen Hund, der mit Bellen antwortete. In den Händen der Leute raschelte das Blatt mit dem Liedtext des Schweizerpsalms. Doch bevor es ans Liederplärren ging, nuschelte das Volk ein Vaterunser.
Ich habe mich umgedreht und bin gegangen. Dieses verlogene Getue habe ich schon damals gehasst, und ich schaue ihm heute mit nicht weniger Verachtung entgegen.
1980 und das Scheitern der Pfaffen
Es war das Jahr 1980 und das 5. Schuljahr war ein Monat vorher zu Ende gegangen. Einige Monate früher hatte ich mich entschlossen, nicht mehr am Religionsunterricht teilzunehmen, denn ich konnte dem christlichen Gott und der Religion und vor allem deren Vertreterinnen und Vertreter nichts abgewinnen. Man hat das resigniert zur Kenntnis genommen, denn man hat von mir nichts anderes erwartet. Ich war schlecht in der Schule, aufsässig und viel zu kreativ, als dass man mir mit irgendwelchen Strafen hätte entgegenwirken können.
Der Pfarrer versuchte es dennoch und zitierte mich zu sich. Es war mir egal. Ich hasste diesen Mann mit einer solch tiefen Inbrunst, dass ich ihn mit Tränen des Zorns anschnaubte, als er mir davon vorsäuselte, dass Jesus auch mich liebe. Er deutete meine Tränen jedoch völlig falsch und ging davon aus, dass mich die Liebe Jesu nun doch endlich erreicht und der heilige Geist oder was auch immer für‘n Christenzeug über mich gekommen sei. Ich war ein kleiner, hagerer und zorniger Junge von 12 Jahren und wusste mir nicht anders zu helfen, als einfach seinen Redeschwall über mich ergehen zu lassen.
Arpad wird verprügelt und errettet
Die Schülerinnen und Schüler meiner und anderer Klassen nahmen meinen Abschied vom Religionsunterricht etwas weniger gelassen hin als der Rektor. Sie schimpften mich, wie gewohnt, einen «Fekker» (Schimpfwort für Zigeuner), nahmen mich in ihre Mitte und verprügelten mich, als wäre das Ganze ein Volksfest.
Die Rettung kam nicht vom «Ott, dem Herrn, im hehren Vaterland», sondern von einem Mädchen aus meiner Klasse, sie hiess Heidi. Sie war klein und schmächtig und hatte lange, blonde Zöpfe.
Man muss sich also nicht wundern, dass ich an jenem 1. August den Platz verliess und nach Hause ging.
Noch einmal 1. August
Es ist übrigens kein Witz, dass der Schweizerpsalm nicht etwa an einem 1. August als offizielle Landeshymne eingesetzt wurde. Es war der 1. April 1981.
Und heute? Heute liegt in unserem Briefkasten ein Flugblatt der Gemeinde Beromünster, mit der sie für die kommende 1.-August-Feier wirbt.
An erster Stelle des offiziellen Programms: «Ökumenische Feier».
Daneben, auf dass all die Eidgenossinnen und Eidgenossen auf das Tunlichste erinnert werden: der Schweizerpsalm, dieses Kirchenlied eines katholischen Pfaffen.
Ihr dürft raten, ob ich da dabei sein werde …
Arpad, der Zigeuner, oder wie aus mir ein Skandaj wurde
Übrigens bin ich kein Fekker, kein Zigeuner, und als Kind habe ich das bedauert. Es war für mich nie eine Beschimpfung, wenn ich so genannt wurde, es kränkte mich nur, dass ich dadurch ausgeschlossen wurde. Ich bin mit der Sendung «Arpad, der Zigeuner» grossgeworden (nebst Star Trek), und wenn Fahrende bei uns haltmachten und nach Messern zum Schleifen fragten, dann wollte ich sie ihnen bringen und beim Schleifen zusehen. Ich wusste noch nichts von «Kinder der Landstrasse» und dem «echten» Leben der Sinti und Roma und Jenischen, ja aller Fahrenden in der Schweiz. Es war einfach besonders. Eine grosse Freiheit, die ich als Kind romantisch betrachtet habe und lieber im Wald Zigeuner spielte als an Bundesfeiern Kirchenlieder zu singen.
Dass ich nun das Volk der Skandaj, diesen Ur-Nienetwiler-Stamm von Fahrenden, erfunden habe, geht gewiss auf diese Zeit zurück, und vielleicht spielt darin auch ein wenig die alte, natürlich kindliche Romantik mit.
Verpassen Sie nicht die neuen Folgen von «Arpad, der Zigeuner». In der nächsten Folge: «Arpad und Smy, der Skandaj, trotzen dem Schweizerpsalm». Demnächst im Vorabendprogramm in Ihrem ZDF.