Brief an Patrizia Am Rhyn

[Im Jahr 1905 malte d’Aciel Arbogast I ein Bild für seine Gönnerin und Förderin seiner Nienetwiler-Forschung, Patrizia Am Rhyn. Sechs Jahre später, am 14. September 1911, schrieb er ihr den unten stehenden Brief. Das Schreiben sagt viel über Arbogast aus, sollte jedoch – das hat die Forschung in den letzten Jahren gezeigt – nicht überbewertet werden. Arbogast neigte zu langen und teils schwülstigen Briefen, in denen es letztlich fast immer darum ging, ein wenig Geld für die Nienetwiler Expeditionen zu ergattern.]

Paris, 1911

 

Liebe Patrizia

Weshalb ich male und weshalb ich all die anderen Dinge tue, die ich tue

Um es kurz zu machen: Ich kann eigentlich nichts wirklich. Ich erlernte den Beruf des Schmiedes, doch ich war darin nicht gut. Also tat ich anderes. Ich wusste nicht, wie ich es tun sollte, also machte ich das Naheliegende: Ich tat so, als wäre ich einer, der es kann. Ich arbeitete auf dem Bau und an Universitäten; ich betätigte mich als Archäologe und als Paläontologe, als Guru und als Photograph. Ich tauchte nach archäologischen Schätzen, trat auf Bühnen auf und versuchte mich in hundert anderen Dingen. All das tat ich, ohne auch nur einen Schimmer davon zu haben, was ich eigentlich tat. Ich lernte schnell, ja, man kann sogar sagen: ich lernte verdammt schnell. Einmal in ein Arbeitsgebiet eingearbeitet, konnte mich bald niemand mehr von einem unterscheiden, der nicht in diesen Berufsstand gehörte. Ich bin ein Chamäleon, ein Meister der Camouflage und ein Dilettant sondergleichen. Das sage ich nicht etwa mit Stolz oder Scham, denn beides ist mir fremd. Ich sage es der Wahrheit zuliebe. Für dich, die du wissen willst, wer ich bin.

Alles, was ich in meinem Leben tat, tat ich, um zu überleben oder anderen Fahrenden wie mir zu ermöglichen, in Frieden zu leben.

Wie macht man etwas, das man nicht kann? Es ist ganz einfach: Man tut so, als sei man jemand, der es kann!

Als ich mich entschied, die Kunst zu ergründen, machte ich es nicht anders. Ich wollte wissen, was die Menschen an der Kunst finden. Dabei musst du wissen, dass Kunst, wie wir sie im Westen kennen, eher die Ausnahme ist. Der überwiegende Teil der Menschen hat dieses Verständnis nicht – sie verstehen es ebenso wenig wie ich. Kunst verstehen sie als «etwas Schönes herstellen». Schöne Schnitzereien oder Verzierungen oder Bildnisse ihrer Götter oder Geister. In Australien, Afrika oder bei den Indianern Amerikas ist unsere Art der Kunst ganz und gar unbekannt. Nicht anders in Indien, wo man meinen Freund Pablo wahrscheinlich mit Stöcken totgeschlagen hätte (was ich mit Bedauern, aber auch einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis genommen hätte). Als Skandaj oder – wie du es nennen magst – «Nienetwiler» wuchs ich früh mit verschiedenen Formen der Kunst auf. Unsere Eltern zeigten uns die Plätze unserer Ahnen, die in den grossen Höhlen Bildnisse schufen, dass es heute den Künstlern in Paris die Schamesröte ins Gesicht treiben würde, wenn sie davon wüssten. Dennoch, als ich nach Paris kam, sah ich hier Bilder von Männern und Frauen, die ein so ganz anderes Bewusstsein für die Darstellung von Dingen hatten als ich, dass ich einfach nicht anders konnte, als begeistert zu sein über dieses Skandi, dieses Werk, dieses Licht und Singen.

Sofort ging ich zu einem Maler und bat ihn, mich zu unterrichten, doch der wollte Geld dafür haben. Geld. In Paris gab es nichts ohne Geld. Im gesamten Westen gab es nichts mehr ohne Geld. Woher sollte ich es nehmen? Zu jener Zeit arbeitete ich bei Monsieur Giallume als Photograph. Ich entwickelte seine Platten und hielt ein grosses weisses Tuch in die Höhe, wenn er Lichtbilder machte. Manchmal, bei weniger wichtigen Aufträgen, durfte ich selber photographieren. Die wenigen Centimes, die ich dabei verdiente, reichten gerade für ein bisschen Essen und die kleine Kammer, in der ich wohnte. Einen Lehrer konnte ich mir also nicht leisten. So begann ich an den Flaniermeilen und in den Parks nach weggeworfenen Farbtuben und -gläsern zu suchen, die all die Künstler, die dort das Volk portraitierten, weggeworfen hatten. Dann malte ich auf alles, was ich auftreiben konnte. Mal war es Papier, mal waren es Bretter, mal war es ein alter Fetzen Leinen, den ich fand. Ich nahm mir ein Bild vor, das ich gesehen hatte, und stellte mir vor ich sei der Künstler der es gemalt hatte. In Künstlerpose stellte ich mich vor die aus Dachlatten zusammengenagelte Staffelei und malte. Herrje, was soll ich sagen! Mein Unvermögen zeigte sich schneller als die Farbe trocknen konnte. Ich rang um jeden Strich, um jedes bisschen Licht oder Schatten, um die Farbzusammensetzung, oder auch nur darum, dass ein Gesicht tatsächlich als solches erkennbar war. Zum ersten Mal im Leben wurde mir bewusst, dass das Tun als ob nicht genug war.

Und was soll ich sagen? Das weckte meine Neugierde! Was war das, was man nicht imitieren konnte? Abgesehen von meinen mangelhaften Kenntnissen im Zeichnen, ja dem Fehlen von Talent im Zeichnen, der Unkenntnis, wie man Farben mischt oder ein Bild gestaltet, fehlte mir die Freiheit des Geistes, etwas einfach zu erschaffen. Daran war ich schon als Schmied gescheitert, als Photograph erst recht, und nun also auch beim Malen. Ich war zutiefst frustriert, ja verzweifelt. War es tatsächlich so, dass ich das einfach nicht konnte?

Also sprach ich mit Künstlerinnen und Künstlern in ganz Paris. Pablo, George und all die anderen brachte ich mit meinen dummen Fragen zur Weissglut, bis ich endlich begriff: Man musste erst die Technik beherrschen, bevor man es konnte. Ich war nicht erstaunt. Auch ein Schreiner, ein Schmied oder ein Steinmetz musste erst die Technik beherrschen, bevor er etwas erschaffen konnte. So haben es uns schon die Ahnen gelehrt, und es stimmte offenbar immer noch. Verdammt!, dachte ich, und das, wo ich doch so ein fauler Hund war. Da dachte ich doch tatsächlich, dass zwei, drei Nachmittage bei einem Meister genügten, um Kunst zu erlernen.

Ich begriff, dass ich doch tatsächlich Jahre darauf verwenden müsste, um etwas Gescheites hervorzubringen. Verdammt auch, verdammt!

In mir war nicht ein bisschen, ja nicht ein kleines bisschen von dem Feuer, das es bedurft hätte, das zu tun. Ich mochte nicht. War zu faul und, das muss ich zu meiner Verteidigung sagen, die Nienetwiler Forschung hatte mich inzwischen gepackt und zehrte nicht nur an meinen bescheidenen Mitteln, sondern auch an meiner Zeit.

Also fasste ich einen ebenso mutigen wie törichten Entschluss: Ich würde einfach weiterhin stümperhaft malen und der Kunst auf die Schliche zu kommen versuchen.

 

Und nun, meine Liebe, nun weisst du, weshalb das Portrait, das ich von dir malte, so wenig Ähnlichkeit mit dir hat, dir einfach nicht gleichen will, und doch, jetzt, wo ich das schreibe und es erkenne, dennoch etwas von dir in sich trägt. Die Last des Hutes, den du dir aufgesetzt hast, und die dich zur Seite zieht, als hättest du einen Amboss aufgesetzt. Die dunkle Seite, die dein Gemüt bedrückt, und die helle Seite, die dich zu dem Menschen macht, der du bist. Das wenigstens habe ich geschafft, und das musst du zugeben: Auch deine Augen sind nicht schlecht getroffen.

Vor Kurzem lag ich nächtens wach in meinem Bett und sinnierte darüber nach, was wohl wäre, wenn du nicht die wärst, die du nun mal bist. In guten Kreisen lebend, wohlhabend und nur im Geheimen bereit, einen Mann wie mich zu unterstützen oder zu treffen. Stell dir nur vor, du wärst Elise, deine Magd! Hätten wir nicht ein Leben zusammen gefunden? Und dann hätte ich dir irgendwo ein Häuschen gebaut. Und natürlich, weil ich kein Zimmermann bin, hätte ich so tun müssen, als wäre ich einer, und hätte Balken an Balken und Brett an Brett gefügt. Das Häuschen wäre sicher schräg gewesen, die Türen hätten geklemmt und alles, was herunterfiel, wäre in eine Ecke gerollt. Das Dach wäre nicht dicht gewesen und die Zimmer zugig, aber du hättest mich dennoch geliebt, denn wer baut sonst ein Häuschen für eine Magd?

Nun, Elise ist, im Gegensatz zu dir, ein wahrer Drache, den zu bändigen oder mich ihm zu unterwerfen ich nicht die Kraft hätte. Und du bist nun mal die, die du bist. Eine bezaubernde und sehr wohlhabende Frau, die auf eigenen Beinen steht und sich nicht mit Zigeunern wie mir abgibt. Umso grösser ist mein Dank für deine Unterstützung, dass ich meine Nienetwiler Forschungen betreiben kann, und ich hoffe, dass du mir verzeihst, dass ich nicht alles zuwege bringe, was ich mir vorgenommen habe und ab und zu, nur selten, ich schwöre, den einen oder anderen Centime für ein Glas Wein ausgebe, statt das Geld an Amot weiterzuleiten, damit er wieder eine dieser Publikationen finanzieren kann, die ihm so sehr liegen. Und, um diese Möglichkeit einer Überleitung so gut als möglich zu nutzen – es wäre wunderbar, wenn du einige Franken an unsere Expedition an den Sambesi beisteuern könntest, denn ich glaube wirklich, dass wir dort Grossartiges finden werden.

Mehr habe ich nicht zu schreiben und werde mich jetzt wieder meiner Arbeit widmen.

 

Sei meines grössten Respekts und aufrichtiger Freundschaft gewiss.

Dein Aciel