Entkunstung-Verkunstung

Auf einer Schweizer Verkaufsplattform fand ich folgendes Angebot:

«Coole Eisenteile von Bernhard Luginbühl»

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Verkäufer bemerkt dazu, dass er die Teile nach einem Gespräch nach «Der letzte Zorn» in Burgdorf (nach meiner Recherche 1983) geschenkt bekommen habe.

Mindestgebot für alles: 1 Franken

 

Folgende offensichtlichen Fragen stellen sich daraus:

1. Ist der Verkäufer glaubhaft und sind die Teile tatsächlich von Bernhard LuginbühlMan kann es vermuten, denn wer auf einen Betrug aus wäre, würde diese Teile nicht für 1 Franken verkaufen. Dass er sie zudem datieren kann, ist zumindest ein starkes Indiz für die Provenienz Luginbühl.

2. Was wird hier verkauft? Offensichtlich acht stark korrodierte Eisenteile (zwei Schrauben, zwei Flansche, eine Unterlagsscheibe und drei Muttern), welche sich noch vor 1983 im Besitz des Schweizer Metallplastikers Bernhard Luginbühl befunden haben sollen. Der Schrottwert (31.10.2020), beträgt ca. 0.008 Rappen. Zudem wird hier Bernhard Luginbühl verkauft, zumindest eine Idee von ihm, ein Souvenir. Sozusagen ein kleines Eiffeltürmchen, das uns an die Reise nach Paris erinnern soll, oder, in diesem Fall, an den Künstler Luginbühl. Ein kultiges Irgendetwas, das dadurch, dass es von Luginbühl kommt, mehr zu sein scheint als einfacher Schrott. Und es werden hier Möglichkeiten verkauft.

3. Ist es das Geld wert? Zugegeben, einen ganz kurzen Moment (ca. 0,34 Nanosekunden) habe ich mir überlegt, darauf zu bieten. Nicht wegen Luginbühl, sondern wegen des skurrilen Angebots. Ich hätte es dann als quasi philosophischen Möglichkeiten-Pool ausgestellt. Selbstverständlich habe ich mich dagegen entschieden und mich stattdessen entschlossen, diese Teile hier zu nehmen:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es sind wunderschöne Schrottteile, die zwar nicht dieselben Möglichkeiten bieten wie die von Luginbühl, aber nicht weniger viele oder gar schlechtere. Zudem sind sie absolut frei von jedwelcher ihnen von Dritten zugesprochenen und «angehauchten» Geschichte. Es sind nur Schrottteile. Die Frage also, ob sie den Franken wert sind, ist keine ökonomische, da sie, ohne Zusammenhang in ein künstlerisches Sich-ausdrücken-Wollen, also Kunst, und ohne Zertifikat oder Ähnliches nur einen rein emotionalen Wert haben. Wie viel einem jedoch Emotionen wert sind, ist individuell und somit nur dann quantifizierbar und quasi mit einem Preisschild zu versehen möglich, wenn man das entsprechende Objekt in den weltweiten Emotionshandel einbringt. Dass dies in einer Online-Auktion geschieht, ist sehr praktisch, da sich so der effektive Wert am besten abschätzen lässt.

Was natürlich in diese Überlegung nicht mit eingeschlossen wird, da ebenfalls kaum oder gar nicht in einen monetären Wert zu setzen, sind die gebotenen Möglichkeiten.

Das Ding an sich, und zwar jedes einzelne in diesem Konvolut, birgt eine fast unendlich scheinende Fülle an Möglichkeiten. Nehmen wir eine der Schrauben-Muttern. Was ist eine Schrauben-Mutter? Eine Schrauben-Mutter ist ein meist aus Metall oder Kunststoff, selten aus Holz gefertigter Ring oder mit Kanten versehenes Metallteil, welches einem Innengewinde versehen ist, das wiederum auf das Gewinde einer Schraube gedreht werden kann, um daran zum Beispiel etwas festzuziehen. Die Mutter ist ein ganz erstaunliches Ding, denn, ähnlich dem von Heidegger in «Das Ding» beschriebenen Krug (jedenfalls wenn ich den Mann richtig verstanden habe), betrachten wir mit der Schrauben-Mutter nicht nur diesen Metallring mit Gewinde, sondern auch das, was nicht da ist: das Fehlende und erst dann Seiende, wenn die Mutter sich um die Schraube gedreht und diese quasi in sich aufgenommen hat. Das Wichtige an der Schrauben-Mutter ist also nicht einfach der Ring, sondern es ist die Leere, um die er sich schliesst. Lao Tse hätte in Kenntnis der Schrauben-Mutter vielleicht geschrieben: «Die Schrauben-Mutter, die du siehst, ist nicht die Schrauben-Mutter!»

Die Vielfalt an Möglichkeiten, die diese Schrauben-Mutter bietet, kann nicht einmal annähernd beziffert werden. Abgesehen von einer Unzahl verschieden langer oder in verschiedenen Materialien gefertigter Schrauben, die die Mutter aufnehmen kann, ist auch der Verwendungszweck lediglich durch das Mass der Innenbohrung vorgegeben. Eine M10er-Mutter kann nur eine M10er-Schraube so aufnehmen, dass diese passt.

Die Möglichkeiten gehen jedoch noch darüber hinaus, denn es muss ja auch der Herstellungsprozess berücksichtigt werden, das Design der Schrauben-Mutter, das deren Einsatzmöglichkeiten festlegt, und damit Material, Materialfestigkeit usw.

Der Entwicklungsprozess der Schrauben-Mutter hat jedoch sicherlich nie vorgesehen, dass diese einmal als etwas mit einem emotionalen Wert in den Handel kommt und beispielsweise einem Sammler, einer Künstlerin oder einem sentimentalen Schrotthändler Möglichkeiten bietet, zu dekorieren oder ein künstlerisches Objekt daraus zu fertigen, oder die Schrauben-Mutter weiterzuverkaufen.

Alleine dass wir Kenntnis erhalten von dieser Schrauben-Mutter, verändert in gewissem Masse unserLeben und kreiert so in uns weitere Möglichkeiten.

In diesem Licht betrachtet sind die Schrauben-Mutter und die anderen Teile in diesem Angebot, dieser Sammlung an Möglichkeiten, also unbezahlbar und der Anbieter macht einen grossen Fehler, sie zu diesem Preis zu verkaufen.

4. Ist das Kunst oder kann es weg? Ob es sich um Kunst handelt oder nicht, könnte im besten Falle Bernhard Luginbühl beantworten. Welche Intention hatte er, als er die Teile verschenkte? Sollte sie der, der die Gabe erhielt, an die Wand hängen (und wenn ja, gab es, zumindest in Luginbühls Vorstellung, eine Hängordnung oder eine Vorstellung der Anordnung der Teile in einer Vitrine?).

Kennt man Luginbühls Werk, kann man davon ausgehen, dass dem nicht so war. Wahrscheinlicher ist, dass er, wie das eben seine Art war, diese Teile verschenkt hat im Sinne eines «Samens», eines Verteilens einer Idee oder eines genetischen Codes einer Idee, was man alles aus ein paar Schrottteilen machen kann. Das Geschenk beinhaltete also das Angebot an Möglichkeiten in Voraussetzung von Fantasie beim Beschenkten.

Ist dies alleine schon Kunst? Sofern diese Intention beim Künstler vorhanden war, ja, und das nehme ich doch stark an, denn ich habe Luginbühl kennengelernt und würde ihn nicht so einschätzen, dass er aus lauter Boshaftigkeit seinen rostigen Schrott verteilt. Es ist also Kunst in dem Sinne, dass eine Idee transportiert wird, die nicht zwingend mit dem Objekt oder den Objekten in ihrer Gesamtheit verknüpft bleiben muss. Die Kunst ist, auf Möglichkeiten des Seins, in Luginbühls Fall des Seins von Schrott, aufmerksam zu machen, ein Geschenk zu tätigen, also eine Gabe zu tun, die die Beschenkten annehmen können oder nicht. Nehmen sie es an, dann haben sie Kunst in den Händen und viele Möglichkeiten.  Verlieren sich die Teile bei anderen alten Schrauben und sonstigem Schrott in einer Kiste in der Garage, dann ist es Kunst, die nur in diesem Einzelfall, zumindest auf Zeit, verloren ist. Nicht aber das gesamte Werk, nämlich eben, diese Idee weiterzugeben. Sollte man die Schrauben also doch kaufen und als Kunst erhalten?

Ich für meinen Fall habe mich dagegen entschieden. Stattdessen habe ich das Werk hier zu analysieren versucht und geneigter Leserin, geneigtem Leser vielleicht ein klein wenig von dem abgegeben, was dieser Schrott hat: Rostkrümel von Kunst und Weisheit.