Über das Vergessen
Dergestalt ist die Welt, dass da der Mensch, der sie bewohnet, sich nur an das erinnert, was ihm nicht unangenehm sei. Wie ein junges Spätzlein sind seine Gedanken, so unstet. Wie ein Gletscher sind seine Gedanken, so träge.
Was dem Menschen am einen Tage wohl gefallen mag, schiebet er tags darauf von sich und will sich nicht erinnern, was gestern gewesen sei.
Der Mensch schützet, was ihm nützet, auch wenn er weiss, dass er es falsch tut. So schützet er sich mit einem Tiger gegen die Sonne, mit einem Krokodil gegen den Regen. Selten, dass einer hingehet und nachdenket und sich Gedanken machet, die tiefer sind als dieser, dass er seine Bedürfnisse befriedigt haben wolle.
Der Mensch vergisst, was ihn bekümmert, ausser der Kummer solle Teil des Lebens sein, weil dieses sonst nichts biete. [«sur l’oubli», Simeon L’étranger, 1764*]
Ach, ist es wahr, so wahr! Allein die letzten Monate haben gezeigt, wie wahr!
Wladimir Wladimirowitsch Putin, dieser Drecksmörder und geisteskranke Kriegstreiber: War er nicht gestern noch «ein Freund der Schweiz», wie es der Bundesrat Ueli Maurer noch vor drei Jahren sagte? Haben wir diesem Despoten nicht Zucker in den Hintern geblasen, ihn und seine Bande von Oligarchen hofiert, damit sie ihr Blutgeld möglichst in der Schweiz ausgeben?
Ja, haben wir. Wir haben auch vergessen wollen, dass wir sein Gas nehmen. Sein Öl, seine Rohstoffe, sein Geld. Und wie man es seit jeher tut, lässt man dafür seine Seele da.
Apropos Seele. Was ist eigentlich aus den armen Seelen geworden, die in der Zwischenhölle an der Grenze Polens harrten? Nein, ich meine nicht die jungen hübschen Ukrainerinnen, die uns seit zwei Wochen ins Fernsehgerät sagen, wie schrecklich die drei Tage Flucht waren. Auch nicht die Million Kinder und alter Leute aus der Ukraine.
Ich meine die paar Tausend Flüchtlinge aus Afghanistan, die die Polen mit Knüppeln wieder über die Grenze zurück nach Belarus geprügelt haben. Was ist jetzt mit denen? Liess man sie einfach am Zaun stehen, um sich um «die richtigen Flüchtlinge» – wie es letzte Woche eine deutsche Zeitung schrieb – zu kümmern?
Ja, das sind halt keine Christen, keine Weissen aus dem weissen, christlichen Kulturkreis, der uns ja so wichtig ist. Wieso eigentlich? Stammt nicht auch der Wixer Vlad der Schreckliche Putin aus diesem Kulturkreis? Oder Victor Orban? Oder der Hei Duda in Polen, der sich von der EU eine Watsch’n einfing, weil er sich bei seinen Pushbacks hat erwischen lassen?
Seltsam, dass die Medien nicht mehr darüber berichten. Ist man wohl froh, dass man sich nicht selber als rassistisches Arschloch denunzieren muss. Wär ja furchtbar.
Und stell dir vor, du schreibst dem Roten Kreuz, dass du bereit wärst, einen Flüchtling bei dir aufzunehmen, und es kommt ein Afghane.
Ja, genau so ist das mit den Menschen. Man ist hilfsbereit ohne Ende. Wieso? Wirklich Nächstenliebe? Die selektive Liebe des Herrn und der Frau Schweizer?
So muss es wohl sein.
Sicher ist aber: Wir werden, wenn es denn Gewinne verspricht, uns mit Vergnügen an den Hals des nächsten Despoten werfen.
Wir werden auch weiterhin vergessen, woran wir uns nicht erinnern wollen, weil dieses Erinnern dann Fragen aufwürfe.
Wir werden auch weiterhin ganz nach unseren Bedürfnissen selektiv lieben und hassen und trauern und empört sein. Wir werden gegen diesen Krieg demonstrieren und den anderen ignorieren. Wir werden diesen Flüchtlig mit offenen Armen aufnehmen und jenen in die minenverseuchten, kahlen Berghänge Afghanistans zurückprügeln. Wir werden dem Mörder Putin keine Flugzeuge mehr geben, dafür dann den Saudis, denn irgendwoher muss das Öl ja kommen, nicht wahr?
Und bald schon werden wir vergessen haben, dass die Ukraine ein freies demokratisches Land war. Denn wir möchten ja nicht zugeben müssen, dass wir nicht alles getan haben, um die Demokratie in der Welt zu schützen. Dass wir uns erlaubt haben, wieder egoistisch zu sein und den Ukrainern zu sagen, sorry ey, aber du musst jetzt halt wieder zurück. Tut mir leid, dass die Ukraine jetzt zu Russland gehört, wo Zar Vlad regiert, aber wir müssen grad die netten Ungarn aufnehmen, die wegen des Bürgerkriegs herkommen wollen.
Und dann sind wir wieder alle sehr betroffen und empört und schrecklich, schrecklich diese Welt …
* Simeon L’étranger hat es nie gegeben.