inchiostro e forse una storia

Früher war alles anders. Sagt man. Früher war alles anders. Nichts, was sich nicht verändert hätte. Nichts, was nicht gewachsen oder vergangen wäre, was nicht Patina angesetzt oder vom Wind der Zeit weggeschliffen wurde.

Das Schreiben. Gedanken vom Kopf durch Finger und Füllfederhalter aufs Papier. So war es einmal. Das ist vorbei.

Klapperdiplapper rattern Finger nun die digitalisierten Gedanken in Sekundenschnelle auf den Bildschirm. Was einst ein Vorgang war, der ebenso rezeptiv wie verausgabend war, ist die Geschwindigkeit des Schreibens heute dergestalt, dass eine Reflektion des Geschriebenen währenddessen kaum mehr möglich ist. Da Zeit aber fehlt, wird nicht mehr nachgelesen, Geschriebenes nicht geprüft, nicht verinnerlicht und nicht überdacht.


Im Dachgeschoss der Löffelburg sass Nino de Biasi in dem kleinen Zimmer unter dem Dach vor dem kleinen Fenster, das ostwärts den Blick auf Beromünster und dahinter südöstlich auf den Erlosen freigab. Hinter ihm bei der kleinen Küche knackste das Holz in dem eisernen Ofen, der schon fast glühte, so heiss war er, und dennoch das kleine Mansardenzimmer nicht warm bekam.

«Meine liebste Anna», schrieb er, «Wie geht es dir, mein Herz?  Und wie geht es meiner kleinen Maria und dem Ninolino? Hier ist es kalt. So kalt. Ich vermisse dein strahlendes Lächeln und die Sonne Apuliens. Am letzten Sonntag war Alfredo hier. Er hat mir dein Paket mitgebracht. Meine Liebste, ich danke dir! Gb auch Mamma einen Kuss von mir und danke ihr für die Spaghetti und den Sugo. Hier bekommt man das nicht. Die Schweizer essen nur Kartoffeln, Brot und Wurst. Keine Pasta, keine Tomaten oder Fisch. Sie sind hart, diese Schweizer, und behandeln uns schlecht. Sie nennen mich ‘Tschingg’ oder ‘du Sautschingg’ und treten nach mir. Und immer ist es kalt.»

Nino stand auf, holte sich aus der Kanne auf dem Ofen einen Schluck Kaffee und setzte sich wieder. Schaute aus dem Fenster und bereute die letzten Sätze. Anna würde sich Sorgen machen. Mamma würde sich Sorgen machen und Papa würde aus dem Haus gehen, die Corso de Umberto zu «Giuseppes» hinunterlaufen und sich dort ein Glas Rotwein gönnen, mit den anderen Alten herumjammern und von der Zeit schwelgen, in der sie noch etwas tun konnten.

Anna und Mamma würden sich sicher umarmen und zusammen weinen. Immer weinen sie, wenn sie an die denken, die in der Ferne sind. Doch wo sollte er sonst sein? Auch wenn hier die Bezahlung schlecht war, so war sie noch immer besser als zu Hause, in Casamassima, Bari, Brindisi oder Tarent. Und in den Grossstädten wie Neapel und oder Rom wartete man nicht auf einen Bauernsohn, der nichts gelernt hat. Die halbe Jugend war er entweder auf der Flucht vor den Camicie Nere gewesen oder hatte gegen Mussolinis faschistische Häscher und die Deutschen  gekämpft. Zuletzt, Seite an Seite mit den Amerikanern. Doch was zählte das heute? Der Krieg war seit zwölf Jahren vorbei und Arbeit gab es kaum. Wer etwas gelernt hatte, der hatte Möglichkeiten, aber er, Nino, er war schon froh, dass er in der Schule und bei den Partisanen wenigstens schreiben gelernt hatte.

Nun, er wollte weiterschreiben, das Niedergeschriebene etwas relativieren und seiner Anna und Mamma die Sorgen nehmen.

«Immerhin, meine liebste Anna, habe ich hier Freunde gefunden. Die meisten wie ich aus dem Süden. Albano kommt aus Brindisi und Giorgio aus irgendeinem Dorf in Kalabrien. Ich habe den Namen vergessen.  ‘Burro’, eigentlich Andrea Bartoccini, kommt aus Neapel. Er ist ein sturer Kerl, grobschlächtig und stark wie ein Ochse. Er wohnte wie Giovannis Claudio an der Via della Pieve. Doch sie kennen sich nicht. Am Samstag nach der Arbeit setzen wir uns oft zusammen, singen Lieder und trinken etwas Wein. Anna, mein Herz, hast du das Geld bekommen, das ich geschickt habe, und reicht es euch zum Leben? An Weihnachten werde ich, wenn es irgendwie geht, nach Vico kommen. Es sind nur noch drei Monate!

Nun, die Tinte geht mir fast schon aus. Ich werde mir nun etwas von der Pasta machen, Anna, und ein Glas Wein auf euch trinken. Wenn ich an euch denke, wird die Kälte dieses Zimmer fliehen wie unsere Schafe den Wolf.

Herze alle von mir bitte. Sei nicht geizig mit den Küssen, denn ich habe genug davon.

Und schicke Ninolino zu ‘Giuseppes’ und lass ihm ausrichten, er soll nicht an gestern denken, sondern an morgen. Wenn ich nach Hause komme und ihn wiedersehen werde. Tust du das für mich?

Ich liebe dich

Nino

Inspiriert durch Fund: LB_001_083 | Leere Tintenflasche | Gefunden hinter Wandverkleidung Dachgeschoss | Früherer Bewohner (um 1957): Nino de Biasi

©Simon Meyer 2019