An der Reling

Als Corona nach Europa kam, war plötzlich alles andere vergessen. Auch die Flüchtlinge, die nach wie vor über das Mittelmeer kommen wollen. Das Thema hat mich schon 2016 beschäftigt und ich habe damals einen kleinen Text verfasst.

 


An der Reling

Meine kalten, steifen Finger klammerten sich um die vergoldete Reling des Luxusliners MS Prince Philip, auf dem ich diente, und mein Gesicht trotzte der eiskalten Gischt, die der harte Westwind über das plötzlich wieder winterliche Mittelmeer fegte.

Drinnen lachten und zechten sie. Assen irische Langusten und schlürften das glibberige lebende Fleisch frischer baskischer Austern. Dazu Dom Pérignon oder Veuve Clicot, vom Schiffs-Sommelier Ives Gerard kredenzt und ins Glas geträufelt, als wäre es das Blut ihres heiligen Jesus Christus.

Ein Bullauge hinter mir gab den Blick auf die Passagiere frei. Alle sassen sie da drinnen im warmen und trockenen Mahagoni-Tempel. Ungarn, Engländer, Franzosen, Österreicher, Deutsche und mehr– kurz: die ganze europäische Bagage hockte zusammen und liess es sich gut gehen. Und sie waren nicht alleine da. Im grossen Casino zockten die Amerikaner mit neureichen Russen und Chinesen, Arabern, Iranern, Indern und Japanern. Die Jazzband spielte gefällige Tunes aus den Zwanzigern und Dreissigern und gefracktes Personal huschte von Tisch zu Tisch und servierte Häppchen.

Ich drehte mich angewidert ab und sah wieder auf die schäumende See hinaus. Dahin, wo die Toten in ihren orangen Rettungswesten auf den Wellen auf und ab hüpften wie in einem makabren Tanz. Ich machte dem Zweiten Nautischen Offizier Meldung, dass ich wieder welche gesehen hätte: «Mann über Bord auf Nordnordwest, etwa acht Personen in Rettungswesten, Distanz dreissig Meter.» Der NO konnte dann die Koordinaten an die Italiener weitergeben. Die durften das «Totgut» dann auffischen. Hauptsache, die da drinnen sahen keine Leichen. Das könnte ihnen den Appetit verderben.

Ich wünschte mich in die Nordsee und einen grossen Eisberg voraus, und war froh, dass mein Dienst hier in drei Wochen endete. Lieber würde ich auf dem «Holländer» anheuern, als mit diesen Leuten zu fahren.

«Schchichtcchhhchchwechselchhch» rauschte es aus dem Funkgerät. Ich machte mich auf den Weg auf die Brücke, um Meldung zu machen und die Ablösung abzuwarten. Danach ab in die Messe, um noch was Warmes zu bekommen.

Verdammt frisch heute.

 

 

 

 


Das Foto ist aus meiner Foto-Serie «Bewegt», Wäscheständer und blaues Badetuch, bewegte Langzeitbelichtung

©Simon Meyer, 15. 3. 2016