Gib mir mein Polemik

Die Polemik ist im eigentlichen, ursprünglichen Sinne eine Kunstform. Es ist die Streitkunst, die gezielte, formgerechte Anfeindung und Beleidigung eines Gegners mit dem Ziel, ihn aus der Fassung zu bringen, um die Diskussion zu gewinnen. In ihren Ursprüngen war sie also das Wortgefecht zwischen streitenden Wissenschaftlern oder Literaten, «Gschtudierten» halt, die es gerne auch mal deftig liebten.

Das 20. Jahrhundert war ein Fehler. Nicht nur ganz grundsätzlich, sondern auch im Besonderen mit Blick auf den Umgang der Menschen miteinander. Sie wurden gemein.
Ja, der Mensch war das schon vorher, aber damals liessen reiche Adelige und verkommene Pfaffen einfach Arme sich gegenseitig umbringen. Im 20. Jahrhundert änderte sich dies, da nun die Armen als Arbeiterklasse am politischen Prozess beteiligt waren und auch mal Krieg spielen wollten. So kamen Nachsitzer und Soziopathen wie Hitler, Stalin oder Mao an die Macht. Bildungsferne Tunichtgute und Mördergesellen, die im Abschlachten keine Grenzen kannten und keine Diskussion oder gar Kritik an ihrem Tun duldeten. Damit starb die alte Form der Polemik fast aus, da ja nicht mehr diskutiert werden konnte.

Nach dem Zweiten Grossgemetzel tauchte sie glücklicherweise in den Parlamenten – zum Beispiel in Deutschland und Österreich – wieder auf und wurde dort nicht nur gehütet, sondern auch gepflegt. In der Schweiz jedoch wurde sie schnell auf die Rote Liste gesetzt. Sie verstummte fast vollends und überliess das frei gewordene Beleidigungs- und Diskussionsbiotop dem Beleidigungsschmodder der SVP, die diesen flugs als freie Meinungsäusserung und «das wird man ja noch sagen dürfen» deklarierte. Andere in der Diskussion Ungelernte (meist Journalistinnen oder Journalisten oder aber Abstimmungsverliererinnen und -verlierer) nannten diese fälschlicherweise Polemik. Damit war sie zwar wieder auf dem Parkett, jedoch nicht die schöne alte Sorte, sondern eine von denkarmen, ja denkfernen, ihre Vernunftbegabung schnöde links liegen lassende und nach rechts marschierenden Entsinnungsgenossen, die eine neue Rassen- und Gesinnungspolemik züchteten. Bald hatten sie das Monopol darauf und es konnte gar nicht mehr diskutiert, sondern nur noch polemisiert werden. Sagte eine Journalistin etwas, dann war das «Lügenpresse», verteidigte ein Politiker die Journalistin, war er eine «Medienhure». Flüchtlinge wurden zu Messerstechern und Minarettbauern, die «unsere europäische Lebensart» [sic] muslimisieren und verschleiern wollten.

Als zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine gar garstige und grabfüllende Variante des Coronavirus die Menschheit durcheinanderwirbelte, fand die Polemik ein neues Wirkungsfeld. Bislang gab es zwar die laut und dumm blökende Pegida-Bewegung in Deutschland, die nicht weniger verdumpften «gilets jaunes» in Frankreich und andere Pöbelbewegungen in allen Ländern Europas. Nun aber bekamen diese alle ein gemeinsames Ziel und Auftrieb durch die Hilfe einiger gut daran verdienender Geschäftsleute und Meinungsheuchler wie XY Q.denk711 [Name der Redaktion bekannt, soll jedoch bitte in der Geschichte untergehen wie einst die olle Titanic] oder die Lachnummern Rimoldi und Rossi [Vornamen unwichtig, da die in ein paar Jahren sowieso niemand mehr kennt].

Kurz: Was das 20. Jahrhundert an der Polemik nicht zerstört hat, das wird nun durch Blödnasen und Coronaleugner zu Matsch getreten.

ABER OHNE MICH!
Ich liebe die Polemik! Sie ist eine gefährdete Spezies wie der Mittelsänger, Rotkopfwürger oder die Schnatterente.
Wir müssten einen Verein gründen, um sie zu retten, ja das Bundesamt für Kultur und die Pro Helvetia, -Patria oder Wasauchimmer müsste eingeschaltet und die UNESCO informiert werden.

Als Erstes müssen natürlich Gegenmassnahmen eingeleitet werden. Das heisst: Täglich eine anständige polemische Diskussion führen. Gerne auch mit Ehemann oder Ehefrau, die, angesprochen auf Totgebratenes, gerne auch sarkastisch und beleidigend zurückgeben und das Angemahnte wegdiskutieren dürfen. Jedoch, bitte, den Faden – das heisst das gekonnte Streitgespräch – nicht aus den Augen verlieren!

Zweitens sollen Menschen, die sich der sogenannten braun-schmoddrigen Rassen- und Gesinnungspolemik schuldig machen, mit allen Mitteln der polemischen Kunst ausdiskutiert und entleidigt werden. Einfach Fortdiskutieren und in wohlbeleidigender Form ins Nichts polemisieren.

Drittens dürfen an noch zu rettenden human sources, also Lebendgewebe mit Restverstand, heutzutage sich in Gruppen wie Freiheitstrychler, Massvoll, Querdenken oder anderer politischer Petrischalen für virale Verdummung Zusammengerotteter, zaghafte Rettungsversuche in angewandter Polemik vorgenommen werden. In Anbetracht des Umstandes, dass die meisten von ihnen nicht geimpft sind, erübrigt sich allerdings ein allzu grosser Aufwand, da ihre Bestände ja deutlich zurückgehen werden.

So, und nur so ist die schöne und feine, ja die liebliche Polemik zu retten, und dann werden wir sie eines Tages Hand in Hand mit der wohlfeilen Satire in den Sonnenuntergang wandeln sehen.

 

 

 

©Simon Meyer, 2021