Lusia und wie ich einen Planeten im Stich liess

Als ich in den Weltraum flog, kam ich einst auf den Planeten Lusia. Er war schön, dieser Planet. Grün und blau, ganz wie die Erde. Der Himmel war voll von fliegenden Tieren und die Wälder voll von rennendem Leben. Da sah ich inmitten der Wiesen und Wälder eine Stadt und dachte mir, dass ein Besuch vielleicht lehrreich sein könnte.

Ich landete in einem kleinen Wäldchen, um die Stadt möglichst unerkannt erkunden zu können. Leider wurde ich jedoch von Kindern gesehen, die die Neuigkeit sofort nach Hause trugen. Als ich endlich in der schönen Stadt mit ihren Häusertürmen, die wie Lauchblüten anmuteten, eintraf, empfing mich ein Komitee aus Blasmusik und Flöten, Trommeln und Schalmeien und ein Abgeordneter der Stadt.

«Fremder!», rief er. «Wir begrüssen dich!»

Natürlich errötete ich und wurde ganz kleinlaut, denn solchen Pomp bin ich weder gewöhnt noch mag ich ihn. Also hob ich nur meine Hand und winkte und rief zurück, dass auch ich sie grüsse.

Man führte mich in einen Empfangssaal, der gute dreihundert Meter über dem Boden in einer goldenen «Lauchblüte» lag. Die Aussicht war umwerfend und das Interieur berauschend. Auf langen Tischen war Essen aufgetischt und Knappen und Zofen eilten hierhin und dahin, um Getränke nachzuschenken. Als die ersten Befragungen, woher ich denn komme und wie es dort sei, vorüber waren, zog mich ein grosser Kerl beiseite und sagte: «Wir müssen mit euch reden. Wärt ihr so gut, mich zu begleiten?» Natürlich gebot es die Höflichkeit, dies nicht auszuschlagen, also folgte ich. In einem unglaublich extravaganten Raum, der alle Bestrebungen des Jugendstils zum Gespött machte, nahm ich an einem grossen runden Tisch Platz, an dem bereits ein Dutzend andere sassen. Sie alle starrten mich neugierig an.

«Ich grüsse euch und bedanke mich für diesen Empfang.»

«Wir grüssen auch dich, Smy, der du aus dem Weltraum zu uns gekommen bis. Sicher hast du dort viel gesehen und erlebt, sicher hast du viel gelernt über all die Welten da draussen, und sicher bist du dadurch weiser geworden.» Die Frau, die das sagte, war etwa zwei Meter gross und ihr Auge funkelte mich schelmisch an. «Viel gesehen, ja, weise wohl kaum», entgegnete ich.

«Versteht, es handelt sich hier um eine Bitte unsererseits, die ernsthafter nicht sein könnte. In unserer schönen Stadt gibt es einen Bürgermeister. Er heisst Pént-oh und ist streng und …» ihr Stimme senkte sich merklich «… machtgierig. Auf der anderen Seite haben wir Sili. Er möchte ebenfalls Bürgermeister werden. Nun ist es so, dass Sili kaum besser ist als Pént-oh. Er verspricht zwar, dass er die Korruption in der Stadt bekämpfen möchte, und tatsächlich hat er viele Meuscheleien aufgedeckt und ging dafür sogar ins Gefängnis, aber dennoch: Was ist wahr an dem, was er sagt? Ist er ein Opportunist, der jedem nach dem Auge blinzelt? Sagt er die Wahrheit? Er hat in der Vergangenheit Dinge gesagt, die manche allzu leicht vergessen! Dass die, die im Walde wohnen oder aus anderen Städten kommen, Kakerlaken seien, dass nicht jeder und jede jeden oder jede lieben dürfe, dass die mit den blauen Gesichtern und den roten Verbrecher seien. Dass unsere Stadt die einzig grosse und wahre sei. Solches eben. Aber er erscheint uns besser, ehrlicher und geeigneter als Pént-oh. Nun wurde Sili auch noch von den Häschern des Pént-oh vergiftet. Er hat es überlebt, aber auch nur, weil er in Urosa, einer Stadt weit weg von hier, behandelt wurde. Was wir also brauchen … was wir von dir erbitten, ist die Meinung eines Aussenstehenden. Ein objektiver Blick!»

«Oh Mann, Leute!», stöhnte ich. Das war genau der Grund, weshalb ich lieber unerkannt bleibe. Immer soll man die Probleme anderer Leute lösen, bloss weil man ein Raumschiff hat.

«Woher soll ich wissen, wer der Bessere für euch ist? Ihr könnt doch wählen, also überlasst es doch dem Volk, wer es sein soll.»

«So einfach ist das nicht. Das Volk sieht nur die Wahlwerbung des Pént-oh. Sili hingegen hat es schwer, irgendwo aufzutreten.»

«Ich verstehe, was du meinst. Der eine erscheint wie ein Opfer und wie ein Held, aber er ist für euch nicht wirklich zu fassen. Habt ihr ihn denn selber befragt?»

«Das haben wir, und natürlich hat er nichts anderes erzählt, als dass er die Demokratie wiederherrichten, die Korruption abschaffen, das Verbrechen bekämpfen und unsere Stadt wieder gross machen will.»

«Also wie bei uns: das Übliche.»

Sie bequatschten mich eine Stunde lang, und so gab ich zuletzt, nach Schlaf heischend, nach, ihnen bei der Entscheidung zu helfen.

Am nächsten Tag setzten sie mich vor die «Wissensmaschine» und ich zog mir alles rein, was über die beiden zu erfahren war. Es kam mir bekannt vor und ich lachte über das Universum, dass es so wenig Fantasie hatte. Allerdings hatte mich der schreckliche Shrimps-Cocktail beim Empfang schon auf eine herbe Enttäuschung vorbereitet, und so konnte ich es einigermassen gelassen nehmen.

Die beiden Kontrahenten waren, um es freundlich zu sagen, politische Opportunisten und Machtmenschen, wie ich sie sonst nur von der Erde kannte. Jedes Mittel war ihnen recht. Der eine, dieser Sili, hatte den Teil des Volkes hinter sich, der den alten Machtapparat loswerden wollte. Allerdings waren unter seinen «Fans» von den übelsten, ich möchte sie als Faschisten bezeichnen, bis hin zu den extremsten, ich möchte sie als Kommunisten bezeichnen, alle vertreten. Er biederte sich, so schien es, bei allen an. Pént-oh hingegen war einfach ein Machtmensch, der all seine Stricke fest im Griff zu behalten versuchte. Das gelang natürlich nicht und brachte seinerseits noch mehr Despotismus hervor. Die Justiz war faktisch ausser Kraft gesetzt und die Exekutive fest in seiner Hand.

Ich verstand das Dilemma der Bewohnerinnen und Bewohner. Und ich dachte an meine Erde, in der dieser Unsinn seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden mit einer Energie praktiziert wird, als ob es Preise zu gewinnen gäbe. Die Preise waren allerdings meist Mord, Gefängnis oder Vergessen. Weshalb taten die Mächtigen also, was sie taten? Wieso taten es Pént-oh und Sili? Die Demokratie, das wusste ich als Schweizer, ist keine grundsätzlich schlechte Sache. Wir betreiben diese Staatsform schon eine recht lange Zeit, und auch wenn sie ihre Tücken und Mängel hat, so ist sie einer Diktatur oder Technokratie doch bei Weitem vorzuziehen. Natürlich gibt es im Universum noch bessere Lösungen, aber bis diese die Erde erreichen würde, oder Lusia, würde es noch sehr lange dauern.

Was also konnte ich hier tun?

Natürlich, eine Alternative wäre gewesen, beide zu töten. Aber was hätte das gebracht? Neue Emporkömmlinge, die die Stunde zu nutzen wussten. Oder alles beim Alten belassen und dem Schicksal seinen Lauf lassen? Irgendwann würde Pént-oh sterben oder zu alt sein, dann hätte Sili seine Chance. Und was dann? Was, wenn er ebenfalls nur ein Despot war?

Als sich auf der Erde das Volk erhob, um gegen die Mächtigen anzustürmen, und als das Blutbad vorbei und die Massengräber vergessen waren, was blieb da? In Frankreich? In Russland? In China? Welche Chancen hatten sie hier, dem wieder und wieder folgenden Machtanspruch weniger zu entkommen?

Natürlich wäre es leicht gewesen, ihnen von direkter Demokratie, von Gewaltenteilung und ähnlichen Utopien zu erzählen. Utopien, die nur deshalb in meinem Heimatland funktionieren, weil sie für alle am bequemsten und profitabelsten scheinen.

Es gab also keine echte Lösung? Sollte mein kleines Abenteuer also so enden? Dass ich sagen musste: «Das ist alles kompliziert und es gibt nicht ‹die Wahl›. Ausserdem bin ich zu alt für den Scheiss! Schaut selber, wie ihr zurechtkommt.»

Manche Menschen mögen glauben, nur weil jemand ein Opfer sei, sei er auch gut. Oder nur weil er oder sie Täter oder Täterin ist, sei sie böse. Doch so ist das nicht. Das Universum ist kompliziert und wir bleiben mit unseren Fragen allzu oft alleine vor einem Meer aus Antworten, die wir nicht nachvollziehen können.

Und Lusia? Ich weiss es nicht. Ich will ehrlich sein. Ich bin kein Held. Kein weiser Raumfahrer, der hier und dort gleichermassen Antwort findet. Ich bin Smy, und ich liebe das Abenteuer. Bier in einer Bar auf Gh%&gTERTtt und ein kleines Techtelmechtel mit einer vierbusigen befiederten Schönheit auf Knck z-ho. Kurz, ich habe die arme schöne Stadt ihrem Schicksal überlassen und habe bei Nacht und Nebel das Weite gesucht. Ich bin nicht stolz darauf, im Gegenteil, aber was hätte ihnen meine Einmischung gebracht? Die Erste Direktive der Sternenflotte untersagt jedwede Einmischung, und das zu Recht. Betrachten wir die Erde heute, und all die Einmischungen von Amerikanern, Chinesen, Russen, Türken, Deutschen, der Schweiz oder wemauchimmer, so erkennen wir schnell, dass kaum eine je etwas am Sein der Menschen verbessert hat. Sie hat nur den Gewinn der sich einmischenden Länder optimiert. Also Finger weg und abhauen, sagte ich mir, und war schon zwei Lichtjahre entfernt, als über Lusia die beiden Sonnen aufgingen.