Shabby Chic

Als wir uns so Anfang der 80er angesoffen unter der Egg räkelten und von Touristen und hiesigen Fotografen ablichten liessen und ihnen den Stinkefinger hinstreckten, als das Vermöbeln von Skins noch schick und das Ausbuhen von Nena zu Anstand und Sitte gehörte, zu jener Zeit also, als wir nichts für unsere Zukunft taten, dafür aber umso mehr für unser Selbstmitleid, damals gab es den ersten Laden, den ich kannte, der zerrissene Jeans verkaufte. Ich glaube, er hiess Relax und lag am Kapellplatz oder Schwanenplatz, jedenfalls dort in der Nähe irgendwo. Die Kinder von Eltern, die es sich leisten konnten, gaben dort ihr Taschengeld für Blech-Nietengürtel, Shabby Chic-Jeans und Pseudo-Punk T-Shirts aus und kauften sich damit ein wenig Coolness und Rebellenschick.

In den heutigen Tagen ist ja Shabby Chic wieder ganz in Mode. Die Menschen in ihren Billigbauten in den Stadtperipherien, arbeitend, er und sie, sofern es ein «und» gibt, ansonsten nur er oder nur sie. Die Zeit zum Leben in den eigenen vier Wänden ist auf das Streamen von Filmen und das Schlafen gerafft, das «wahre» Leben findet draussen statt, am Arbeitsplatz, in den Bars, dort, wo etwas passiert. Um nicht die noch immer wie frisch ausgepackt aussehenden Möbel angaffen zu müssen, wenn man mal daheim ist, muss man etwas haben, das wenigstens den Eindruck macht, es hätte Geschichte. Denn der Schein von Geschichte ist in. Geschichte selber nicht, da ist einfach keine Äktschen drin. Also geht sie einem am Arsch vorbei und man hat absolut keine Ahnung, was die da die ganze Zeit meinen mit «Sowjetunion», «Mauer», «Holocaust» und «Mondlandung». Die Geschichte, die man nicht hat, wird also, wie bei den Jeans in den 80ern, fabrikneu mitgeliefert. Shabby Chic nennt man das und wie ich kürzlich gesehen habe, gibt es sogar Kurse, in denen man lernt, sein Zeug kaputt zu machen, damit es angeblich besser aussieht. Irgendwo in der Basler Region gibt es einen Auto-Tuner, der dein Auto auf Shabby trimmt. Mit extra Rost und allem Drum und Dran. Und nicht wenige Frauen geben sich heute viel Mühe und investieren Stunden in Kliniken und vor dem Spiegel, damit sie aussehen, als hätten sie dreissig Jahre als Edelprostituierte auf dem Buckel. Aufgequollene Lippen wie nach einem Box-Match und die Visage gepudert und gespachtelt, als hätte man einen Grundkurs beim Leichenbestatter gemacht.

Das Bedürfnis, etwas zu haben das Charakter hat, rührt ganz offensichtlich davon, dass man sich selber nicht mit dem eigenen Charakter auseinandersetzen möchte. Ist ja auch eine unangenehme Sache, das. Ich meine, Charakter an und für sich ist schon anstrengend, aber sich auch noch damit beschäftigen? Die Likes bei Facebook geben vor, wie du zu sein hast, welche Fotos du postest, welche Klamotten du trägst, wen du zusammen mit den anderen grad mobben darfst oder durch den Schlamm ziehen sollst. Die Facebook und Instagram Bubbles sperren dich in eine Welt, in der es keinen eigenen Charakter mehr braucht. Auch Geschichte nicht. Oder eine eigene Meinung. Es wird geteilt, was «in» ist. Ein bisschen Klimaschutzgedichte, wenn du in der Bubble bist, ein wenige Corona-Verschwörungstheorie oder Fremdenhass, wenn du in jener Bubble bist. Und all das immer schön schick. Shabby Chic.

Es gibt diese Jeans für reiche, die wahrscheinlich von kleinen Kinderhändchen abgeschmirgelt werden. Kürzlich sah ich zwei Typen in Anzug, Krawatte, (Mundschutz), und beide mit demselben paar Jeans. Beide hatten diesen kleinen Fleck am Bein, der andeuten soll, dass man etwas gearbeitet hat und nicht nur am Bankschalter Menschen über den Tisch zog oder mit teuren Beraterhonoraren Geld scheffelt. Nein, echte, ehrliche Arbeit. Der Fleck sieht allerdings eher aus, als hätte die obgenannte Edelprostituierte nicht richtig aufgepasst oder als hätten die Typen zu Hause ihrem USM-Möbel einen Shabby chic verpasst. Ich habe gesehen, dass so ein paar Jeans 680 Stutz kostet, und kann es nicht verstehen.

Die 80er waren eine extreme Zeit. So viel Neues, so viel ganz und gar Unglaubliches. Tschernobyl, der Fall der Mauer, der Zusammenbruch der Sowjetunion. Ein Schauspieler wurde US-Präsident und die Neue Deutsche Welle brachte eine neue Welle Schlipsträger hervor. Die Punks starben aus und liessen dem Shabby Chic den Vortritt, der Letten erlebte gerade seinen traurigen Höhepunkt und die freie Kulturszene konnte sich in Luzern endlich sowas wie Gehör verschaffen. Skins wurden, wie es sich eigentlich gehört, verprügelt, und Nena, wie es Anstand und Sitte verlangte, ausgebuht. Das soll aber nicht heissen, dass das bessere Zeiten waren. Es bedeutete, dass wir Geschichte hatten und uns ihrer bewusst waren und viele sogar stolz damit herumprotzten (mich eingeschlossen). Heute flippen sie aus, wenn sie dabei waren, wenn wieder eines dieser überteuerten Smartphones herauskommt. Dabei haben wir doch gerade Corona. Könnte das nicht eine Chance sein? Geschichte? Wir waren dann nicht nur dabei, wie die Erde bachab ging, sondern haben auch Corona erlebt. «Weisst du, Kevin, damals mit Corona, damals hätte es das aber nicht gegeben!»

Geschichte passiert nicht, Geschichte erlebt man. Was Vergangenheit hat, ist entweder mit uns oder ohne uns geschehen. Für die Ereignisse macht das kaum einen Unterschied. Wohl aber für uns, denn sie formen uns. Dieses Erleben, dieses Leben lässt sich nicht mit etwas Laugenpulver und Schleifmittel herbeirufen.

Möglich, dass wir bei den ganz jungen Menschen nun einen Wandel sehen. Denn in vielen von ihnen spüre ich heute so etwas wie die Unrast auf ein neues Leben in einer besseren Welt, wie wir es in den 80ern hatten (und alles total vermasselten).