Be – Möglichkeit
Im Alaju gibt es das Wort «be». Einfach könnte man es mit Möglichkeit oder Potenzial für etwas übersetzen, aber das wäre in etwa, wie wenn ich sagen würde, ein Schweizer Taschenmesser sei ein Messer. Es ist nicht falsch, aber …
Um zu verdeutlichen, was «be» bedeuten kann, möchte ich eine kleine Begebenheit, die sich kürzlich zugetragen hat, niederschreiben. Davor aber eine Erklärung: Grundsätzlich bedeutet «be», dass absolut alles nicht nur möglich ist, sondern tatsächlich so geschah, geschieht oder geschehen wird (da die Skandaj Zeit nur pro forma in ihre Sprache aufgenommen haben, ist es eigentlich egal). Es ist nur so, dass es nicht für alles Zeugen oder Erinnerungen gibt.
Aus den drei kleinen Begebenheiten, die eigentlich eine waren, kannst du dir also aussuchen, was du willst, denn wie alles im Alaju sagt die Wahl dessen, was man wählt, mehr über dich aus als über das Gewählte.
Wir sassen vor dem Fernsehgerät und schauten irgendeinen belanglosen Mist, wie er halt kurz vor zehn so kommt. Gerade überlegte ich mir, ob ich schon ins Bett gehen und etwas lesen soll, da hörte ich die Katzentüre im Nebenzimmer. Doch die Katze kam nicht rein, und da ich befürchtete, dass sie gerade eine Maus zerlegen wollte, ging ich nachschauen. Tatsächliche hatte sie eine Maus. Ein klitzekleines Mäuschen, um genau zu sein. Das kleine Ding sass da an der Wand und wurde von unserer Mieze recht blöd angestarrt.
«Ach, verdammt Katze, ich habe dir gesagt, du sollst die Viecher draussen lassen!»
Be – A
Unsere Katze schaute mich böse an und sagte: «Meckre nicht rum, soll ich die etwa auf der Strasse fressen?»
«Es ist mir schnurzegal, wo du die frisst, aber sicher nicht in meinem Haus!»
«Das ist nicht dein Haus, das gehört deiner Frau!»
«Na und? Ich will jedenfalls nicht, dass du diese armen Tiere killst.»
«Ah, der Hörr hat eine Doppelmoral, wie? Ich darf keine Tiere essen, aber du schlägst dir jeden Tag den Bauch mit Kühen und Schweinen und Hühnern und Fischen voll. Haben die sich einfach zum Sterben vor deiner Tür niedergelegt, oder was?»
Ich war nun etwas sauer, denn das doofe Vieh hatte natürlich recht, also sagte ich halt, was man so gelernt hat: «Solange du hier wohnst, tust tu, was ich dir sage, und ich sage, ich will verdammt noch mal keine Tierkadaver von dir ins Haus geschleppt bekommen!»
Die Katze fauchte mich wütend an und machte sich daran, durch die Katzentür zu verduften. «Nimm dein Abendessen mit, du Dummie!»
Da drehte sie sich um, sah mich an, als wollte sie mir an die Kehle, packte das arme kleine Mäuslein am Nacken und verliess das Haus.
Be – B
Unsere Katze schaute mich böse an, denn ich hatte sie offensichtlich beim Vorspiel erwischt. Es erschliesst sich mir nicht, weshalb die immer mit den Opfern spielen müssen, bevor sie ihnen den Kopf abbeissen. Durch mich abgelenkt, sah sie einen Augenblick nicht auf die Maus, die den Moment sofort ausnutzte und der Wand entlang durch die Tür ins Wohnzimmer verduftete, wo sie meiner Frau zwischen den Beinen durchrannte und dieser einen dieser filmreifen Frauenjappser entlockte, eh sie unter dem Grünzeug in der Ecke Schutz suchte. Die Katze hatte bereits das Interesse verloren und entschlüpfte durch die Katzentür ins Freie, bevor ich mit ihr schimpfen konnte. Unter irgend so einem grünen Blattstengeldingens, das bestimmt einen Namen hatte, schauten ängstlich zwei klitzekleine schwarze Knopfaugen hervor. «Mist!» fluchte ich, da ich wusste, dass ich nun das Tier einfangen musste, bevor es sich hinter irgendeiner Wand verstecken und, den Gesetzmässigkeiten solchen Geschehens folgend, bald zu stinken anfangen würde. Ich holte mir ein Trinkglas und irgendeinen Prospekt und kniete mich, vom Jagdfieber bereits erfasst, nieder, um die Beute zu begutachten. Sie rannte um einen Topf herum. Ich schaute um den Topf herum und versuchte sie zu kriegen. Also wartete ich geduldig und liess ganz langsam die Hand mit dem Glas über ihr niedersinken. Eine halbe Ewigkeit dauerte es, bis die Hand nur noch wenige Zentimeter über ihr war. Sie sah derweil noch immer um den Topf herum, in der Hoffnung, mich früh genug zu entdecken. Schwups. Ich hatte sie im Glas. Leider schaute der Schwanz noch raus, und um ehrlich zu sein, ich bin ein feiner Kerl und wollte nicht riskieren, dass dieses dünne Ding noch abgezwackt wird. Also lupfte ich das Glas ein wenig, um ihn reinzuschieben, aber da war sie schon weg und das Spiel ging von vorne los. Sie hielt mich zum Narren, und wahrlich, wäre das Bild eines siebzig Kilo schweren Hominiden, der eine gerade einmal baumnussgrosse Muridae jagt, nicht derart lächerlich gewesen, es würden heute Opern darüber geschrieben!
Die Maus hatte natürlich keine Chance und ich fasste sie wieder. Diesmal war der Schwanz auch mit im Glas und so brachte ich sie raus und liess sie im Garten unseres leer stehenden, verfallenden Nachbarhauses frei.
Be – C
Die Katze schaute mich böse an, sie hasste es, wenn sie bei ihrem Tun unterbrochen wurde. Es nahm ihr jede Lust am Spielen mit den Opfern und, als würde ein Schalter umgelegt, ihr ganzer Körper nahm eine andere Haltung an. Sie murrte etwas und verliess durch die Katzentür das Haus.
«Nun zu dir», sagte ich zu dem klitzekleinen Mäuschen.
«Fass mich bloss nicht an, ey!», piepste sie.
«Willst du für ewig hier hocken? Die Katze wird irgendwann wiederkommen, und vielleicht hat sie dann wieder Appetit.»
«Ich könnts ihr ausreden, Mann, und hier einziehen.»
«Und was soll ich mit einer Maus im Haus?»
«Wir könnten quatschen.»
«Und worüber?»
«chweissnich, über Kant, Kühe melken oder Star Trek? Ich bin da flexibel.»
«Wie stehts mit Seelenwanderung?»
«Scheisse Mann! Seelenwanderung? Wasn du für einer?»
«Nun ja, ich will dir nicht zu nahe treten, aber ich hab immer gedacht, wenns Seelenwanderung gibt, was für ein Arsch muss einer gewesen sein, um so ein Opfer zu werden wie eine Maus?»
«Hm, und was ist mit euch Menschen? Ich mein, seid ihr vielleicht besser dran?»
«Ich wird wenigstens nicht von Katzen und Vögeln gejagt.»
«LOL, Mann, hast vögeln gesagt.»
«Lass uns wenigstens ernst bleiben, wenn du reden willst, okay?»
«Okay, Mann, okay! Ich mein ja nur, dass nich alle so fett leben wie du.»
«Das ist wahr. Heikles Thema. Du meinst also, dass es eigentlich jedem an den Kragen gehen kann?»
«Klar, Mann, schau dir die Katzen an, flatsch und der BMW ist über sie weggekommen. Und Hunde? Überzüchtet und krepieren zur Hälfte an Krebs. Fische werden weggefangen, Vögel haben nix mehr zu futtern, und Menschen – nun ja, ihr habt euch selber, das ist wohl schlimm genug.»
«Wie kommts eigentlich, dass du so einen fiesen Slang draufhast?»
«Mann, ey, hab in ner Wohnung gehaust, da haben die Kids den ganzen Tag irgend so’n Amischeiss geglotzt. Ist mir echt eingefahren und nun sitzt es fest.»
«Wohl ein Scheiss Karma, was?»
«Kann man wohl sagen, Mann, aber thurgauern wär schlimmer.»
«Wahres Wort, Maus, wahres Wort.»
«Okay, lassen wir die Seelenwanderung. Wie stehst du zur Theorie der Schwarzen Materie?»
«Hab ich echt keinen Plan, Mann. Echt nicht, die Kids haben nie sowas geschaut und über Kant weiss ich nur Bescheid, weil der Alte nachts auf Arte Street Philosophy geglotzt hat, damit er einpennen kann.»
«Und was ist dir geblieben von Kant?»
«Weiss nicht, Mann. Oh ja, das mit dem Leben auf anderen Planeten. Mann ist das abgefahrn. Der Alte meinte wirklich, dass je näher ein Planet der Sonne sei, das Leben darauf umso intelligenter wäre. Der alte Quatschkopf hat grad mal durch ein ‘Sehrohr’, wie er es nennt, geschaut und stellt solche Theorien auf. Voll der Science-Fiction-Freak!»
«Du meinst seine ‘Allgemeinde Naturgeschichte und Theorie des Himmels – von den Bewohnern der Gestirne’ nehm ich an?»
«Ja Mann, voll der harte Stoff, ey!»
«Ja, da geb ich dir recht. Wir könnten das Ganze mal so umschreiben, dass es nicht nur Mäuse verstehen, sondern auch Menschen, was meinst du?»
«Abgefahrene Idee! Machen wir. Aber erst muss ich noch schiffen gehen. Dann komm ich wieder und wir setzen uns dran, okay?»
«Eine Maus, ein Wort!»
Und verdammt will ich sein, genau das taten wir!
Das sind also drei der Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn deine Katze Futter nach Hause bringt. Abenteuer, nichts als Abenteuer!
«be» also, vergiss das nicht, Mann!
Foto: ©Simon Meyer, 2009